Lieber Wolf,
Du hast mich eingeladen, für dieses Buch ein wenig aus meiner Jugendzeit zu erzählen. Gern will ich dieses Angebot annehmen. Du weißt, daß ich als Jugendlicher eine Liebesbeziehung zu einem Mann begann, die über mehrere Jahre fortdauerte. Ist das, was ich zu berichten habe, überhaupt wichtig genug? Wird es andere Menschen, vielleicht Eltern oder gar Jugendliche, interessieren? Ich hoffe es.
Unerklärlich ist mir allerdings Dein Angebot nach Anonymisierung von Personen und Orten. Ich möchte dies nicht, weil ich zu meiner damaligen Beziehung zu Werner stehe, sie nicht missen möchte und in keiner Weise das Gefühl habe, etwas „Schändliches“ verbergen zu müssen. Ich bestehe geradezu auf Offenheit, sozusagen als conditio sine qua non, denn wie kannst Du durch Dein Buch etwas erreichen, wenn Du indirekt gleichsam tabuisierst? Um die Strukturen meiner damaligen Beziehung richtig darstellen zu können, muß ich die Dinge richtig aussprechen, muß Einzelheiten schildern, Freuden und Verletzungen in Worte fassen. Ich tue dies aus dem Abstand der Jahrzehnte heraus, die dazwischenliegen.
Ich habe meinen erwachsenen Freund kennengelernt, als ich 16 Jahre alt war. Meine Eltern hatten in Norditalien ein Ferienhaus, und ich weilte mit ihnen in den Sommerferien 1966 dort. Werner war damals 51 Jahre alt und besaß in der Nähe ebenfalls ein Haus, das er sich nach vielen Jahren beruflicher Tätigkeit im Ausland als Ruhesitz gekauft hatte. Er war ein weitgereister, weltgewandter Mann, der lange in Südamerika gelebt hatte und schon bei der ersten Begegnung mit ihm meiner Vorstellung von einem kosmopolitischen Menschen entsprach. Er war gebildet und verstand sich mit meinen Eltern — mein Vater war ein bedeutender Richter — recht gut. Bei einem der Besuche Werners bei meinen Eltern lernte ich ihn also kennen. Er lud mich zum Abendessen ein. Infolge meiner bürgerlich-konservativen Erziehung sah ich in dieser Einladung etwas Außergewöhnliches, aber auch Faszinierendes.
Wir speisten in einem stilvollen Restaurant in einer kleinen Stadt am Lago Maggiore, und Werner erzählte mir vom antiken Griechenland, von Sokrates und Platons „Gastmahl“, von den Idealen der altgriechischen Philosophie und von der Knabenliebe. Ich war hingerissen. Nie hatte mich ein Erwachsener so sehr wie seinesgleichen behandelt, am wenigsten mein Vater. Die Welt, die mir Werner eröffnete, führte mich weit über den Griechisch-Unterricht an unserer Schule hinaus, wo Platon gerade ein Unterrichtsthema war. Es sollte das Abendessen werden, das sich unauslöschlich in meiner Erinnerung festsetzte, eine Form des „Gastmahls“, das über meine gewiß jugendliche Schwärmerei hinaus die Wendemarke meiner geistig-seelischen Entwicklung setzte.
Nach diesem Sommerurlaub begannen Werner und ich, einander zu schreiben. Er lebte weiterhin in seinem Haus in Italien, ich wohnte bei meinen Eltern in Bonn, besuchte eine von Redemptoristen geleitete Schule und hatte im bürgerlich-klerikalen Mief meines Bonner Lebens Sehnsucht nach der Weite von Werners Welt.
Im darauffolgenden Sommer besuchte uns Werner in Bonn. Am ersten Morgen kam er in mein Zimmer, um nach mir zu sehen. Er glaubte wohl, daß ich noch schliefe, und ich stellte mich schlafend. Seine Hand suchte unter der Bettdecke meinen Körper. Er streichelte mich und mein Herz klopfte vor Aufregung. Ich hatte ein solches Gefühl nie erlebt. Es hört sich vielleicht verrückt an, aber ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei sexuelle Erfahrung. In dieser Beziehung war ich völlig zurückgeblieben. Nie zuvor hatte ich masturbiert; ich wußte schlicht und einfach nicht, wie man sich mit wenigen Handgriffen sexuelle Freuden selbst verschaffen konnte. Heute wundere ich mich über so viel Naivität, aber das bürgerlich-konservative Elternhaus in Verbindung mit der Redemptoristenschule hatte mich bis zu einem Alter von 16 Jahren in sexueller Unkenntnis gelassen. Werner bescherte mir an diesem Morgen den ersten Orgasmus meines Lebens. Es war ein berauschendes Gefühl, und gewiß hätte ich es noch intensiver genießen können, hätte ich mich nicht weiterhin schlafend gestellt.
Auch an den folgenden Tagen kam er zu mir ins Zimmer und wiederholte seine Körperspiele. Fortan zeigte ich ihm, daß ich wach und mit seinem Streicheln einverstanden war. An einem Morgen kam mein Bruder ins Zimmer, als Werner an meinem Bett saß. Wir schafften es wohl gerade so, daß unser morgendliches „Bettgeplauder“ harmlos aussah.
Ich glaube nicht, daß meine Eltern je erfuhren, was sich an diesen Tagen in meinem Zimmer zugetragen hatte. Vielleicht ahnte meine Mutter etwas, sagte aber nichts; meinem Vater war ich ohnehin relativ gleichgültig. Meine Eltern dachten zu dieser Zeit bereits an die Scheidung.
Nach Werners Abreise begann für mich die Zeit regelmäßiger, lustvoll erlebter Selbstbefriedigung. Sexuelle Kontakte zu gleichaltrigen Jungen oder Mädchen hatte ich nicht, obwohl ich Mädchen begehrte. Meine Umgebung förderte lediglich die sexuelle Enthaltsamkeit, nicht aber die körperliche Lust. Mädchen gab es an unserer Schule ohnehin nicht. So dachte ich häufig an die Erlebnisse mit Werner. Auch der Briefwechsel zwischen Bonn und Italien ging unvermindert weiter. Ich hatte Sehnsucht nach ihm, nach den anregenden Gesprächen mit ihm, nach den Erzählungen aus seinem Leben, nach der Malerei, die ihn herausforderte, seit er sich in Italien zur Ruhe gesetzt hatte.
Je öfter Werner uns besuchte, je häufiger wir uns schrieben, desto kleiner und enger erschien mir mein Elternhaus. Werner hatte bereits davon gesprochen, daß ich zu ihm nach Italien ziehen könne. Sein Haus war groß genug für einen weiteren Bewohner. Er versuchte diesen Gedanken auch meinen Eltern nahezubringen, mit dem Hinweis, das elterliche Ferienhaus sei ja nur wenige Kilometer von seiner Wohnung entfernt. Meine Eltern zögerten noch, und so mußte ich mich damit begnügen, daß ich Werner nur während der Ferien häufig sehen und lieben konnte.
Zwei Jahre nach der ersten Begegnung mit Werner traf ich eine der wichtigsten Entscheidungen für meine Zukunft. Ich war 18 Jahre alt und mußte Lebensweichen stellen. Meine Eltern standen vor der Scheidung, ich mußte mich für oder gegen die Bundeswehr entscheiden. Werner konkretisierte sein Angebot, mich in seinem Haus aufzunehmen.
Gleichzeitig kam ich an einen Punkt, an dem ich spürte, daß ich in meiner bisherigen Umgebung nicht mehr leben wollte. Die Schule war unerträglich geworden, absolut unerträglich. Sie hatte mein bisheriges Leben so überaus negativ gefärbt. Der Geruch von Freiheit, den mir Werner nahegebracht hatte und den ich so unendlich liebte, war stärker als die Bedenken meiner Eltern.
Gegen den Willen meines Vaters zog ich im September 1968 zu Werner nach Italien. Meine Mutter konnte sich mit diesem Schritt noch halbwegs abfinden, denn sie befand sich in der Scheidung und wollte sich dauerhaft in ihrem italienischen Ferienhaus niederlassen.
In meiner neuen Heimat eröffnete mir Werner eine neue Welt. Er empfahl mir den Besuch der Europa-Schule in Varese, eine Schule mit internationaler Schülerschaft, mit Jungen und Mädchen. Ich hatte das Gefühl, mich in einer vollkommen neuen Welt zu befinden, in der ich auch die Perspektiven und die Unterstützung fand, die mir mein Vater nicht gegeben hatte. Vielleicht war Werner in dieser Lebensphase so etwas wie ein Ersatzvater für mich — in der Rolle des verständnisvollen, liebenden Vaters.
Die Schule war 30 Kilometer von Werners Wohnung entfernt. Das machte es notwendig, über die Verkehrsverbindungen nachzudenken. Werner kaufte mir ein gebrauchtes Auto, und jeder, der 18 Jahre alt ist, kann verstehen, welches Freiheitsgefühl damit verbunden ist. Ich lebte in einer Schule, die mir die Augen öffnete: mit Internationalität, mit neuen Sprachen, mit einer anderen Kultur als der des miefig-klerikal geprägten Bonn meiner frühen Jugendzeit. Und Werner war derjenige, der dies alles ermöglicht hat. Das Zusammenleben mit ihm war absolut unproblematisch, mehr noch: er förderte mich schulisch und musikalisch, er hat für mich Dinge getan, die mir damals unerklärlich waren. Welche Motive mochte ein 53jähriger haben, stundenlang Tonband-Aufnahmen von mir und meiner Gitarre zu machen? Das kannte ich bisher nicht. Ebensowenig, daß ein Mann in diesem Alter die erste Schülerband zu managen versucht, Kontakte knüpft, um Auftrittsmöglichkeiten zu schaffen, und anderes mehr.
Aber ich möchte zurückkommen zu der Frage, wie das Erotische weiterging, wie mein Liebesgefühl war. Ich liebte Werner auf meine Art. Dieses Gefühl verwandelte sich aber langsam immer mehr in eine Form von Dankbarkeit und in das Gefühl: Hier werde ich verstanden.
Aber auch Differenzen wurden deutlich. Das ursprünglich problemlose sexuelle Zusammensein, das sich weiterhin auf der Ebene gegenseitiger Masturbation abspielte, wurde dann zu einem Problem, als Werner schließlich etwas mehr wollte. Mittlerweile waren seit dem ersten Kennenlernen zweieinhalb Jahre verstrichen. Werner lebte im Widerstreit zwischen Kopf und Herz. Im Kopf war er so eingestellt, wie es das griechische Ideal beschrieb: Der Knabe allein soll glücklich sein, und nichts soll sich ereignen, womit der Junge nicht einverstanden ist. Für ihn war es im Grunde eine conditio sine qua non, daß sein Knabe heterosexuell war. Er sah auch, daß ich älter wurde, und deutete an, bald könnte ich für ihn sexuell nicht mehr so reizvoll wie früher sein. Aber im Herzen und mit seiner Libido strebte er nach weitergehenden sexuellen Aktivitäten, die ich ablehnte. Nicht, weil ich ihn ablehnte. Ich hatte einfach keine Freude dran.
Gelegentlich kam es zu zärtlichen Handlungen, bei denen ich passiv blieb, die ich zwar nicht sehr genoß, aber auch nicht belastend empfand. Am angenehmsten war mir, wenn wir unsere Badefeste veranstalteten oder uns bei einer guten Flasche Rotwein gegenseitig mit der Hand befriedigten. Das war für mich absolut problemlos. Ich will diesen Dingen nicht zuviel Bedeutung beimessen, aber sie signalisierten eine Wende.
Irgendwann lernte ich in der Schule ein Mädchen kennen. Ich hatte natürlich schon vorher Kontakte zu Mädchen, beispielsweise auf Urlaubsfahrten. Es kam auch vorher schon mal zum Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen, aber es war nicht das, was man als Liebe bezeichnet. In das Mädchen aus der Europa-Schule verliebte ich mich regelrecht. Es blieb nicht aus, daß ich auch Werner von Jutta erzählte und bat, sie am Wochenende mitbringen zu dürfen. Jutta hatte tolerante Eltern, wir hätten auch in deren Wohnung intim zusammensein können. Mir war es aber lieber, mit Jutta das Wochenende in Werners Haus zu verbringen, denn Jutta war erst 15 Jahre alt. Werner sah keinerlei Probleme. Das Zimmer, das ich bewohnte, war durch eine Treppe von der übrigen Wohnung getrennt; das gab mir auch Freiheiten gegenüber Werner. Und in diesem Zimmer, meinem Zimmer, hatte ich mein erstes sexuelles Erlebnis mit einem Mädchen, das ich liebte.
Die sexuellen Freuden mit Mädchen waren bald an die Stelle der Erotik mit Werner getreten. Das bewirkte eine gewisse Abkühlung des Verhältnisses zu meinem Freund, aber der Kontakt bestand fort. Problematisch wurde es erst, als mein Wunsch, zu Jutta zu fahren, stärker wurde, und das bedeutete bei den zu überbrückenden Entfernungen, daß ich samstagmittags wegfuhr und Sonntagabends wiederkam. Und das wurde dann doch nach drei, vier Monaten für Werner zum Problem.
Heute kann ich es verstehen, damals verstand ich es nicht, wenn Werner signalisierte: „Du, ich hab‘ nichts mehr von dir.“ Ich sah wohl eine Verpflichtung, auf Werners Bedürfnisse einzugehen, wollte sie aber nicht einlösen, weil meine emotionale Bindung zu Jutta stärker war. Es war nicht mehr so sehr die Freude, mit Werner zusammenzusein, sondern das Gefühl, ich schulde Werner meine Anwesenheit, obwohl ich aber lieber nach Cittiglio fahren wollte, um Jutta zu sehen.
Dieser Zustand hielt mehrere Monate an. Im November 1969 wurde Jutta schwanger. Die Ärzte diagnostizierten eine Eileiterschwangerschaft, die in einem katholischen Krankenhaus abgebrochen wurde, weil das Leben der Mutter in Gefahr war. Diese Situation war auch für Werner ein Wendepunkt, da er nun erkannte, daß ich nicht mehr der Knabe von früher, sondern ein Mann war. Für mich war der Augenblick gekommen, einen Schnitt zu vollziehen. Werner vollzog ihn im Kopf mit, konnte sich aber emotional noch nicht von mir lösen. So wurden sein und mein Gefühlsleben dramatischen Schwankungen unterworfen, allein schon deswegen, weil Werner die Probleme in sich hineinfraß, statt sie offen anzusprechen. Er war dann tagelang wie eine Wand, eine traurige, tränenerfüllte Wand. Das machte mir am meisten Kummer, weil es mein Dankbarkeitsgefühl von der Ebene der Freiwilligkeit herunterholte. Diese Situation eskalierte bis zu einem Punkt, an dem ich nachts um halb drei einfach weggefahren bin und mir sagte: Ich kann es nicht mehr und ich will es nicht mehr.
Ich fand eine neue Wohnung, 30 Kilometer entfernt, wo meine Mutter wohnte. Werner besuchte mich ab und zu, bat darum, mit mir gelegentlich ein paar Stunden zusammen verbringen zu dürfen, was wir auch taten. Aber diese traurigen Augen, die seine Sehnsucht und den Schmerz über die Trennung ausdrückten — das war zuviel für mich. Ich konnte das emotional einfach nicht mehr durchhalten. Ich sagte ihm, daß wir gern zusammen essen gehen könnten, ich aber sexuell nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte. Werner war der Ansicht, daß es dann besser sei, den Kontakt völlig abzubrechen. Er hat es schließlich radikal getan. Mir kam dabei zu Hilfe, daß ich kurze Zeit später ohnehin wegzog, weil ich das Abitur bestanden hatte und in Mailand studieren wollte.
Einige Jahre später zog ich nach London, um dort zu leben, weiter zu studieren und professionell Musik zu machen. Der Kontakt zu Werner brach ab. Über meine Familie hörte ich gelegentlich, waser tat und wie es ihm ging. Er wohnte weiter in Italien und malte. Er hatte sogar in Deutschland Ausstellungen und erhielt Auszeichnungen.
Im Sommer 1977, also immerhin sechseinhalb Jahre nach meiner Trennung von Werner, kehrte ich mit einer englischen Freundin zu einem Urlaubsaufenthalt nach Italien zurück und beschloß spontan, Werner einen Besuch abzustatten. Meine Freundin, die nichts von der Beziehung zu Werner wußte, nahm ich mit.
Beklemmenden Gefühles stieg ich die Treppen zu seinem Haus hinauf. Er öffnete, und nach dem ersten Schock — es war wirklich wie ein Schock, denn er hatte überhaupt nicht mit mir gerechnet — bat er uns ins Haus.
Der Abend verlief zunächst in gespannter Atmosphäre, aber nach einer Flasche Wein sprachen wir über alte Zeiten. Nach diesem Abend nahmen wir den Briefkontakt wieder auf. Ich lebte weiterhin in London. Wenn ich in Italien weilte, um meine Mutter zu besuchen oder mit alten Studienfreunden Wiedersehen zu feiern, schaute ich auch bei Werner rein, und bei diesen Besuchen war es so, wie ich es mir schon sieben Jahre früher gewünscht hatte. Ich spürte, wie schön es war, mit Werner zu reden, ich spürte die vielen Gemeinsamkeiten, spürte, was er noch immer für mich bedeutete.
Werner starb 1980 und hinterließ mir testamentarisch 15 000 Mark. Ich sollte seine Urne — Werner wollte eingeäschert werden — im Mittelmeer versenken, was ich tat. Daß Werner gestorben war, hatte ich gehört, als ich gerade zu einem Osterurlaub in Italien angekommen war. Werners Schwester teilte mir die Nachricht mit. Sie hatte wohl erfahren, daß ich im Haus meiner Mutter erreichbar war.
Die Nachricht traf mich wie eine Keule. Anfangs dachte ich, ich müsse noch zusätzlich ein schlechtes Gewissen haben, weil ich viele seiner Wünsche nicht erfüllen konnte oder mochte. Der Tod selbst war wie ein Schock, ich hatte nicht damit gerechnet, daß er so jung sterben würde. Sein Tod bedeutete für mich einen Verlust; den Verlust von einer Herzensbindung, die man nicht ständig pflegt, die man aber nicht missen möchte. Ein Freund war gestorben — nein, mehr als ein Freund.
Heute, aus dem Abstand betrachtet, bietet sich natürlich die Frage an: Was macht dieses mehr an Freundschaft aus? Was bedeutete diese Beziehung für mich, für mein Leben? Ich möchte die Antwort so formulieren: Seit seinem Tod wird jedes Jahr die Einschätzung stärker, wieviel mir Werner gab, wie sehr er dazu beitrug, das ich heute das bin, was ich bin.
Mit jedem Jahr wird mir klarer, was ich ihm zu verdanken habe, wie er mich geprägt hat. Mit jedem Jahr wächst die Dankbarkeit ihm gegenüber. Es ist eine freiwillige Dankbarkeit, die nichts mehr zu tun hat mit dem Pflichtgefühl von damals, ihm Dankbarkeit zeigen zu sollen oder gar zu müssen.
Vielleicht sage ich es am besten so: Werner war eine Mischung zwischen Freund und Vater. Was er mir zurückgelassen hat, symbolisiert der Ring von ihm, den ich am Finger trage, als Teil von ihm. Werner hat mich auch gelehrt, daß es tiefe Beziehungen nicht nur zu einem Menschen geben kann, sondern daß mehrere gleichberechtigte Beziehungen nebeneinander möglich sind — für mich eine wichtige Erkenntnis. Ohne ihn wäre gewiß meine berufliche Karriere anders verlaufen; die Beherrschung der italienischen und englischen Sprache sind die Basis meines Berufs. Ohne ihn hätte ich nicht in einer Profi-Band gespielt, hätte ich nicht Schallplatten-Aufnahmen gemacht.
Ich habe aber auch häufig den Gedanken: Hättest du dich vielleicht manchmal anders ihm gegenüber verhalten, wenn du den heutigen Überblick, die jetzige Weisheit gehabt hättest? Wie immer, sein und mein Leben ist so und nicht anders verlaufen. Im Großen und Ganzen denke ich, daß meine Entscheidungen richtig waren. Wenn mich jemand fragt, welcher Mensch mein Leben geprägt hat, unter Berücksichtigung der gesamten Entwicklung, dann muß ich sagen: Die Nummer eins war er. Es gibt noch andere Menschen, die mein Leben stark beeinflußt haben, aber Werner hat die entscheidenden Weichen gestellt. Ich habe also trotz schmerzhafter Erfahrungen angenehme Erinnerungen an diese Beziehung, auch an die erotischen Momente, selbst wenn der Ablösungsprozess nicht so verlief, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber ich habe die Erotik, außer in den letzten zwei, drei Monaten, nicht als Problem erlebt, sondern mit Freude genossen. Und das Problem der Ablösung in einer Beziehung ist ja nicht auf eine Mann-Junge-Beziehung begrenzt. Ich hatte ähnliche Ablösungsängste und -schmerzen auch in Beziehungen zu Frauen, wenngleich die sexuelle Lust zu Frauen bisweilen dann noch anhielt, wenn die innerliche Trennung bereits vollzogen war.
Ich habe mit Uta, meiner jetzigen Frau, über die Beziehung zu Werner gesprochen, vom ersten Tag an, seit ich sie kennenlernte. Immerhin war Uta gerade 18 Jahre alt geworden, als ich sie kennenlernte, und ich war damals bereits 32. Vom Altersgefüge her hätte sich also auch hier das eine oder andere Problem anbahnen können. Nun sind wir elfeinhalb Jahre zusammen, seit über vier Jahren verheiratet und haben zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen.
Wir haben oft darüber gesprochen, wie es sein würde, wenn beispielsweise unserem jüngstgeborenen Nicolai ein „Werner“ über den Weg liefe. Ich sag‘s mal ganz mutig: Ich würde eine solche Beziehung nicht mit Zögern, sondern mit Dankbarkeit begleiten. Die Ängste, die man als Eltern verständlicherweise dabei hat, würden am ehesten die Frage betreffen: Ist es ein Mann wie Werner, und wie erkennt man auf Anhieb, ob es ein Mann wie Werner ist? Ich meine, das kann man nur ausprobieren; mit viel Vertrauensvorschuß für das Kind.
Wie denkst Du darüber?
Es grüßt Dich Martin