Die erste Liebe, die ich verlor

Der Drehbuchautor und Schriftsteller Gavin Lambert erzählt von der intimen Beziehung mit seinem Lehrer, die begann, als er 10 Jahre alt war.

Entnommen aus der Sammlung Positive Erinnerungen, zusammengestellt von T. Rivas.

Quelle: Mainly about Lindsay Anderson – A Memoir, Autor: Gavin Lambert, London/New York 2000.

Englischer Originaltext


Gavin Lambert (1924-2005) war ein in Großbritannien geborener Drehbuchautor, Romanautor und Biograph. In sein Buch Mainly about Lindsay Anderson fügt er eine Beschreibung der Beziehung ein, die er ab dem Alter von 10 Jahren mit einem Lehrer seiner sogenannten Vorschule hatte.

“Da ich ein frühes Talent beim Klavierspielen zeigte, beschlossen meine Eltern, dass ich ‘musikalisch’ sei und wie ihnen war auch mir kaum bewusst, dass das Wort in den 1930er-Jahren eine Doppelbedeutung hatte. Kurz vor meinem 11. Geburtstag gewann ich ein Musik-Stipendium für die Vorschule mit einem ‘musikalischen’ Ansehen sowie einem großen Wichtigtuer-Wert. […]

Meine Eltern konnten natürlich nicht wissen, dass die St. Georges Schule auch extrem musikalisch in einem anderen Sinne war. Drei (das bedeutet die Hälfte) des Lehrerkollegiums waren schwul, zwei hatten bereits ihre Lieblinge und der dritte, der Musik unterrichtete und das Stipendium vergeben hatte, wählte mich als seinen Liebling aus. […]

Mein Lehrer-Liebhaber sorgte dafür, dass das, was zwischen uns geschah, völlig natürlich erschien, er muss also erfahren gewesen sein und auch gutaussehend und liebenswürdig. An dem, was wir machen, ist nichts ‘falsch’, erklärte er, aber ‘wir müssen vorsichtig sein, weil manche Menschen das nicht verstehen werden’. Im antiken Griechenland verstanden sie es, fügte er hinzu, und segnete mich mit der Art von Initiation, die er als ein Ideal hochhielt. Dadurch fühlte ich mich nicht nur gegenüber den Menschen überlegen, die dies nicht verstehen wollten oder konnten. Mich aus dem Schlafsaal in das Schlafzimmer des Lehrers schleichen zu müssen, war aufregend und machte ihn noch anziehender.

Und bald, nachdem ich mich in ihn verliebt hatte, verliebte ich mich in die Filme. […]

An den Donnerstag-Nachmittagen, wenn es keinen Unterricht gab, befriedigte mein Lehrer den neuen Appetit auf Filme […].

Die nächsten 18 Monate sind eine Serie von sich überblendenden Erinnerungen, von The Thin Man to The Barretts of Wimpole Street zu Magnificent Obsession zu The Great Ziegfeld to Love on the Run zu After the Thin Man – und dann zu einer Nacht im frühen Dezember 1936, als ein Radio in den Schlafsaal gebrachte wurde, damit wir die Abdankungsrede von Edward VIII. hören konnten.

Die nächste Überblendung geht zu einem Brief, den meine Eltern während der Weihnachtsferien erhielten. Angekündigt wurde die Einsetzung eines neuen Schulleiters in St. Georges, und als ich im Januar 1937 dorthin zurückkehrte, fehlten dort mein Lehrer-Liebhaber, seine zwei schwulen Kollegen und auch ein Lieblingsschüler. Es stellte sich heraus, dass die Eltern des ieblingsschülers irgendwie herausgefunden hatten, was vor sich ging, und ihren Jungen von der Schule abgemeldet hatten. Unter Druck gesetzt hat er die anderen Lehrer benannt, aber behauptet, nicht die Namen ihrer Lieblinge zu kennen. Und wie all die anderen Jungen, die vom neuen Schulleiter befragt wurden, behauptete ich, niemals etwas ‘Falsches’ gehört, gesehen oder gemacht zu haben.

Ich log mit einem klaren Bewusstsein, Sie können sagen: aus Liebe heraus - und gleichzeitig verbarg ich meine Wut auf den neuen Schulleiter, der in mir das Gefühl verletzt zu sein erzeugte, als er von ‘Verletzung’ sprach. […]

Ich fühlte mich sitzengelassen von meinem Lehrer-Liebhaber, der damals für mich emotional weit wichtiger als meine Eltern war, die dessen Existenz niemals vermuteten.

Aber ich fühlte mich nicht verraten, sondern war nur enttäuscht, dass er mir nie einen Brief geschrieben hat - bis mir der andere verlassene Liebling erklärte, dass dies zu riskant wäre.

Mehrere Jahre lang hatte ich Fantasien einer leidenschaftlichen Wiedervereinigung, wenn wir uns zufällig wieder begegneten. Es ist nie geschehen.

Vielleicht wurde er im Krieg getötet. Vielleicht hat er auch überlebt und liest dies, nachdem er neunzig wurde. In jedem Falle ist er unvergessen, ein unverblichenes Foto in meinem Gedächtnis, als meine erste Liebe und die erste Liebe, die ich verlor.”