Quelle: Lieshout, Ted van. 1999. Zeer kleine liefde. Amsterdam: Leopold.
Die untenstehenden Zitate stammen aus der deutschen Übersetzung von Rolf Erdorf (Lieshout, Ted van, Rolf Erdorf, and Brigitte Püls. 2014. Sehr kleine Liebe. München: Rieder.).
Im Alter von 11 bis 12 Jahren hatte Ted etwa ein Jahr lang eine sehr enge Beziehung zu einem Mann, bei der es auf Initiative des Mannes auch zu sexuellen Handlungen kam. Der Junge brach die Beziehung schließlich nach einem Vorfall, bei dem der Mann Teds Grenzen überschritten hatte, ab.
25 Jahre später erhielt er einen Entschuldigungsbrief des Mannes. In seinem im Buch abgedruckten Antwortbrief schildert Ted van Lieshout, wie er die Beziehung als Kind erlebt hat und wie er sie heute als Erwachsener bewertet.
Hier nun ein paar Ausschnite aus der deutschen Übersetzung des Buches, die illustrieren, wie van Lieshout heute zu seinen Erlebnissen steht:
“[…] Ich bin eigentlich nie auf den Gedanken gekommen, Sie könnten vielleicht Gewissensbisse haben wegen dem, was damals geschehen ist. Im Lauf der Zeit habe ich eigentlich vermutet, ich müsse einer von Vielen gewesen sein. Ich fand eine einfache Erklärung für das, was mir widerfahren war: Ich war einem Kinderverführer über den Weg gelaufen. Aber ihrem Brief entnehme ich, dass ich der Einzige war: Wenn das stimmt, warum kam es dann dazu und warum mit mir? Ein Zufall war es nicht, denn alles zusammengenommen hat es über ein Jahr gedauert. Und es gab eine sorgfältige Orchestrierung, immer ging es einen kleinen Schritt weiter. Gerade durch das beständige Verschieben der Grenzen dachte ich, Sie wüssten aus Erfahrung genau, was Sie taten.
Ihr Brief weckt Fragen in mir, die ich für längst beantwortet hielt. Aber die Antworten stimmen offenbar nicht, und damit werde ich zurückgeschickt zu dem, für was ich es hielt, als es geschah: Zwei Menschen empfanden sich gegenseitig als etwas Besonderes und hatten aus dem Grund eine Beziehung. Zufällig war der eine ein Mann und der andere ein Junge.
Dass ich später nach anderen Erklärungen gesucht habe, hat damit zu tun, dass unsere Beziehung recht unvermittelt abbrach und ich mit lauter Gefühlen dasaß, mit denen ich mir keinen Rat wusste. Meine Erinnerung ist mittlerweile lückenhaft, das heißt, ich kann mich irren, aber meiner Meinung nach sind Sie an diesem letzten Nachmittag mit gewissen Handlungen zu weit gegangen. Ich habe mich dann rasch in die Toilette geflüchtet. Da bin ich eine Weile geblieben, habe anschließend auf Wiedersehen gesagt und bin gegangen. Für immer. […]”
Ein wenig später kommt das Thema Schuld zur Sprache:
" […] Aber kann man Ihnen das vorwerfen? Sie sind natürlich nicht verantwortlich dafür, dass die Gesellschaft Sex zwischen Erwachsenen und Kindern ablehnt und ich dadurch mit Scham- und Schuldgefühlen zu kämpfen hatte. Ihnen ist höchstens vorzuwerfen, dass Sie, indem Sie Sex in unserer Beziehung zuließen, mir ein Problem aufgehalst haben, mit dem ich mir als Zwölfjähriger keinen Rat wusste. […]"
Der Brief, den Ted von seinem damaligen Freund erhalten hat, wühlt ihn auf. Besonders problematisch ist für ihn, dass der Mann hauptsächlich seine eigenen Gefühle betont und weniger, wie Ted sich damals und heute gefühlt haben mag.
“[…] Klar sollte sein: Sie haben nicht etwas in mir aufgewühlt, das ich versucht hätte zu vergessen. Ich konnte und wollte es nicht vergessen. Ob ich dadurch einen Schaden davongetragen habe, lässt sich schwer sagen, aber wenn dem so ist, dann bedeutet das noch nicht, dass ich diesen Schaden rückgängig gemacht haben will. Alles, was mir widerfahren ist, Gutes wie Schlechtes, ist nun mal Teil meines Lebens und meiner Existenz, Teil der Person, die ich geworden bin – und das lasse ich mir nicht mehr abnehmen.
Sehr schwierig an Ihrem Brief finde ich, dass bei Ihnen das Schuldgefühl im Vordergrund steht und alles andere in den Hintergrund drängt. […] Ich habe nie die schönen Seiten von damals aus dem Auge verloren, ich habe nie das Gefühl gehabt, Ihnen etwas vergeben zu müssen. Genau das aber ist es, worum Sie mich bitten.
[…]
Sie haben mir nicht wehgetan und mir auch nichts Böses gewollt; Sie haben mich mit Aufmerksamkeit umgeben. In meinen Augen war es darum ein ideales Verhältnis: zwischen einem Jungen und einem Mann, der begriff, dass ich mehr war als „nur ein Kind“. Ein Mann, der mich für außergewöhnlich genug befand, um mit mir Umgang zu pflegen, der mich lieb fand, obwohl er kein Verwandter war, der mir zuhörte und mir Zeit schenkte, der nicht ständig sagte, dies oder das dürfe ich nicht, der mir Wärme gab und mich anfassen wollte, sanftmütig war und mich ins Vertrauen nahm, und der außerdem groß und stark genug war, mich zu beschützen. – Ja, ich war stolz darauf, dass wir etwas zusammen hatten. Ich habe unser Verhältnis darum nie als eine Situation erfahren, in der ich missbraucht wurde, auch wenn ich mir im Nachhinein durchaus bewusst ist, dass gerade ihre Zuwendung (eine Hand wäscht die andere) mich auch dann nachgiebig gemacht hat, wenn Sie wieder einen Schritt weiter mit mir wollten. Aber deswegen jetzt Ärger zu machen finde ich übertrieben. Ich war nicht auf den Kopf gefallen und durchschaute durchaus, dass Sie auf mich flogen. Dass mir das klar war, habe ich Ihnen nie gesagt, sondern für mich behalten. Sie sollten nicht erfahren, dass ich, schon bevor Sie damit anfingen, durchaus wusste, was Sex war: Ich hätte Sie auch ohne Weiteres wegschieben können oder aufstehen und nach Hause gehen, aber um das zu tun war ich viel zu neugierig – und ich durfte neugierig sein auf Liebe und Sex. Mich trifft also ebenfalls kein Tadel. […]”
Am Ende des Briefes drückt Ted aus, dass er dem Mann verzeihen möchte. Dies fällt ihm nicht leicht, da er die schönen Elemente ihrer Beziehung leugnet. Ted bietet dem Mann ein Treffen an.
“[…] Dass Sie nur zerknirscht zurückblicken können, finde ich schade. Schlimmer: eine Leugnung des Schönen, das es gab. […] Aber einmal damit konfrontiert, kann ich nicht anders, als Sie in die Lage zu versetzen, sich selbst zu vergeben, in der Hoffnung, dass dabei Raum entsteht anzuerkennen, dass Ihre damaligen Gefühle aufrichtig waren und dass ein kleiner Fehler aus Liebe (oder wie man es auch nennen mag) weniger zuzurechnen ist und keinesfalls 25 Jahre lang nachgetragen werden darf.
Dieser Tage wurde ich mit der Nase auf die Tatsachen gestoßen. Was war, ist immer noch da. Bei Ihnen offenbar auch noch, in Anbetracht Ihres Briefes, allerdings überschattet von ‘Selbstbestrafung’. Es ist etwas Unerledigtes, das nicht auf die Distanz mit ein paar Briefen abgehandelt oder geradegerückt werden kann. Ich denke, es ist wichtig, uns 25 Jahre später nochmals zu treffen. Mögen Sie darüber einmal nachdenken? […]”