Jörg ist 29 Jahre alt und schildert, wie er als Kind mit dem Lehrer-Ehepaar Rita und Jens zu „Wahl-Eltern“ kam. Vor dem Gespräch äußert Jörg die Sorge, durch die Veröffentlichung des Interviews könnten Rita und Jens nachträglich in Schwierigkeiten kommen, und mahnt: „Mit Beziehungen muß man rücksichtsvoll umgehen.“ Auf den Vorschlag hin, die Personennamen zu verändern und auf Ortsangaben zu verzichten, ist Jörg zu dem Gespräch bereit.
Frage: Sie sind im Alter von sieben Jahren zu zusätzlichen Eltern gekommen. Wie begann diese Beziehung?
Jörg: Dazu muß ich ein wenig ausholen. Meine leiblichen Eltern hatten in unserer Stadt eine Kneipe und konnten oder wollten sich deshalb kaum um mich kümmern. Wenn ich bei meinen Eltern sein wollte, mußte ich mich zwischen die erwachsenen Männer in die verräucherte Kneipe setzen. Als ich mit sechs Jahren schließlich eingeschult wurde, hatte ich erhebliche Sprachdefizite und kam daher in eine Sonderschule für Lernbehinderte; aber nicht in die normale Klasse, sondern in eine Klasse für spastisch Gelähmte und mongoloide Kinder. Die Einschulungskommission wußte offenbar nichts mit mir anzufangen, und so landete ich in dieser Klasse, in die ich überhaupt nicht hineingehörte. Ich kann mich selbstverständlich nicht mehr an die Gründe erinnern, die mir auch wahrscheinlich gar nicht genannt worden sind. Ich habe aber später, als ich volljährig war, viele Einzelheiten erfahren, weil ich danach gefragt habe. Meiner damaligen Lehrerin, Rita, fiel bald auf, daß ich in dieser Klasse völlig fehl am Platz war. Sie hielt die Entscheidung der Einschulungskommission für einen Skandal und versuchte, mit Erfolg übrigens, mich in einer normalen Grundschulklasse unterzubringen. Rita hat mir später erzählt, daß ich schon zwei Jahre später im oberen Leistungsdrittel der Grundschulklasse war. Ich denke, daß Rita als gelernte Kindergärtnerin und Lehrerin das Gespür hatte, auf welchem Entwicklungsstand ich mich befand und inwieweit ich bildungsfähig war.
Frage: Es ist nicht außergewöhnlich, daß eine Lehrerin erkennt, daß aus einem Kind schulisch noch mehr herauszuholen ist. Aber Sie sind ja, obwohl Sie eigene Eltern hatten, als Schützling in diese Lehrerfamilie aufgenommen worden. War das Ihr Wunsch?
Jörg: Die Interessen meiner leiblichen Eltern richteten sich auf ihre Kneipe. Die Kinder — ich habe noch eine ältere Schwester — interessierten sie wenig. Wir fühlten, daß wir, vor allem an den Wochenenden, den Eltern im Weg waren. Rita und Jens hatten ein kleines Ferienhaus in den Bergen, und ich durfte ab und zu am Wochenende mit in dieses Ferienhaus. Damals war ich sieben Jahre alt. Später verbrachte ich fast jedes Wochenende bei dem Lehrer-Ehepaar, dessen eigene Kinder erwachsen und schon aus dem Haus waren.
Frage: Waren Ihre Eltern damit einverstanden, daß Sie so viel Zeit bei diesem fremden Ehepaar verbrachten?
Jörg: Ich denke wohl, daß es meinen Eltern recht war, daß ich an den Wochenenden aus dem Weg war. Rita und Jens haben versucht, mich zu adoptieren, aber dieser Plan scheiterte am Widerstand meiner Eltern.
Frage: Wäre eine Adoption auf Ihr Interesse gestoßen?
Jörg: Sie wäre die Erfüllung meines damaligen Traums gewesen. Auch heute, nach über 20 Jahren, sehe ich das noch genauso.
Frage: Gab es Kontakte zwischen Ihren Eltern und Ihren Ersatz-Eltern? Jörg: Also: Ersatz-Eltern waren Rita und Jens keineswegs. Im Gegenteil, sie wurden in meinem Leben zu den eigentlichen Bezugspersonen. Kontakte zwischen diesen beiden Eltern-paaren gab es meines Wissens nur gelegentlich.
Frage: Gab es zu Rita und Jens auch körperliche Kontakte?
Jörg: Wenn ich bei ihnen war, durfte ich mit im Ehebett übernachten. Ich war süchtig nach körperlicher Geborgenheit, und Rita und Jens ermöglichten es, daß ich die bisherigen Defizite an körperlicher Nähe etwas ausgleichen konnte. Ich erinnere mich auch, daß ich körperlich und sexuell recht frühreif war. Auf Fotos, die Jens von mir gemacht hat, ist zu erkennen, daß ich mit elf Jahren schon wie ein Vierzehnjähriger wirkte. Mein Interesse an dem Körper anderer Menschen war bereits vorhanden, als ich die ersten Male bei Rita und Jens übernachten durfte. Zum einen waren gelegentlich andere Kinder dort zu Gast, mit denen ich spielte, manchmal auch erotische Spiele, zum anderen hatte ich reges Interesse an dem Körper von Jens. Ich hatte wohl schon mit sieben oder acht Jahren regelrechte sexuelle Kontakte mit ihm und probierte so ziemlich alles aus, was einem in diesem Alter einfällt.
Frage: Bezog sich das körperliche Interesse nur auf Jens?
Jörg: Ausschließlich. Solange ich mich zurückerinnern kann, habe ich an weiblichen Personen nie sexuelles Interesse gehabt. Rita förderte mich auf andere Weise. Sie erzählt mir heute voll Stolz, daß ich mit neun Jahren schon komplizierte Wörter und sogar Fremdwörter aussprechen konnte. Sie hat meine sprachliche Entwicklung unglaublich gefördert.
Frage: Waren Ihre eigenen Eltern denn nicht eifersüchtig, daß Sie sich mehr zu Ihren neuen Eltern hingezogen fühlten?
Jörg: Wohl schon. Wenn ich zu Hause nicht so spurte, wie es meine Eltern verlangten, oder meine schulischen Leistungen nicht ihren Vorstellungen entsprachen, durfte ich nicht zu meinen erwachsenen Freunden. Für meine leiblichen Eltern war diese Beziehung das ideale Druckmittel, um Wohlverhalten zu erzwingen. Gelegentlich wurde mir ein Nachmittag oder gar ein Wochenende bei Jens und Rita gestrichen.
Frage: Haben Sie darunter gelitten oder war es Ihnen gleichgültig?
Jörg: Ich habe sehr darunter gelitten. Es gab Abende, an denen ich deswegen ständig geweint habe. Ich wollte unbedingt zu ihnen; es war für mich wie ein Paradies. Aus heutiger Sicht kam ich mir vor wie ein Asylbewerber: Ich wollte raus von zu Hause, raus aus dem Dreck daheim. Bei Jens und Rita durfte ich mich frei bewegen, konnte mich frei entfalten. Sie waren lieb zu mir, haben sich mir zugewandt, viel Zeit für mich aufgebracht. Es war eine wichtige Lebensphase für mich.
Frage: Wie haben Sie es geschafft, trotz des gelegentlichen Widerstands Ihrer leiblichen Eltern immer wieder zu den Eltern Ihrer Wahl zu dürfen?
Jörg: Ich setzte dem Druck meiner Eltern Widerstand entgegen, mit Worten, Trotz, Ungehorsam. Je mehr ich Widerstand leistete, umso weniger konnten sie sich ihren eigenen Interessen widmen, und so ließen sie mich gehen.
Frage: War das für Jens und Rita nicht eine schwierige Situation, anderen Eltern gewissermaßen das Kind wegzunehmen?
Jörg: Das glaube ich nicht. Als ich noch klein war und Rita mich mal in der Badewanne wusch, entdeckte sie viele Striemen an meinem Körper. Auf ihr Befragen gab ich zu, daß mich mein Vater oft schlug. Und Rita drohte meinem Vater mit einer Strafanzeige, wenn er mich weiter prügeln würde. Mein Vater hat mich daraufhin nicht mehr geprügelt. Meinen leiblichen Eltern war allein schon aus diesem Grund an einem vernünftigen Verhältnis zu Rita und Jens gelegen. Dadurch konnte ich ohne größere Schwierigkeiten meine neuen Eltern besuchen und mit ihnen zusammensein.
Frage: Durch die abgelehnte Adoption wohnten Sie also weiterhin zu Hause und waren nur gelegentlich, an Wochenenden oder in den Schulferien, bei Rita und Jens?
Jörg: Ja, das ist richtig.
Frage: Die Körperkontakte gingen weiter?
Jörg: Ja, auch zu größeren Jungen, die schon mal bei Rita und Jens zu Besuch waren. Ich kroch stets zu ihnen ins Bett. Aus heutiger Sicht besehen, war es für mich ein dringendes Liebesbedürfnis, aber auch ein Nachholbedürfnis, denn bei meinen Eltern ging es ziemlich gefühlskalt zu.
Frage: Noch einmal zurück zu den sexuellen Kontakten zu Jens: Waren es vorübergehende oder länger anhaltende erotische Kontakte?
Jörg: Diese Kontakte gingen weiter. Sie waren am häufigsten und intensivsten, als ich zwischen 11 und 14 Jahre alt war. Das war die Zeit, die ich als regelrechte Beziehung bezeichnen möchte, besser gesagt: als Höhepunkt der Beziehung.
Frage: Waren die sexuellen Kontakte eher von dem Erwachsenen oder von Ihnen erwünscht? Jörg: Das war eigentlich mein Wunsch. Ich habe mich in dieser Beziehung richtig wohl gefühlt, und so kam es in beiderseitigem Einverständnis zu diesen Kontakten.
Frage: Wollten Sie Sex, oder wollten Sie dem Erwachsenen einen Gefallen tun?
Jörg: Ich wollte auch Sex.
Frage: Auch zu Rita, der Frau von Jens?
Jörg: Nein. Weibliche Personen spielten bei diesen Wünschen keine Rolle. Ich interessierte mich hauptsächlich für männliche Körper.
Frage: Haben Sie damals das Gefühl gehabt, homosexuell zu sein?
Jörg: Mit diesem Thema habe ich mich konkret damals nicht befaßt. Die Beziehung zu Jens war eine Freundschaft, die sich so ergeben hatte. Erst als ich etwa 15 Jahre alt war, habe ich mich mit dem Thema „Homosexualität“ zum ersten Mal richtig befaßt.
Frage: Wie erging es Ihnen dabei?
Jörg: Ich lernte in der Kneipe meiner leiblichen Eltern einen Stammgast kennen. Er studierte Medizin und war mit meinen Eltern gut bekannt. Aus heutiger Sicht denke ich, daß er Päderast und deshalb an mir interessiert war, und so bildete sich, neben der Beziehung zu Jens, eine weitere Freundschaft zu diesem Studenten. Allerdings ging diese Freundschaft sehr schlecht zu Ende, denn mein Vater erfuhr bald über fremde Personen davon und drohte wohl, ihn anzuzeigen. So ging diese Beziehung in die Brüche.
Frage: Ab wann war Ihnen bewußt, homosexuell zu sein?
Jörg: Das kam nicht plötzlich, sondern eher nach und nach. Zunächst versuchte ich, dagegen anzukämpfen, als ich 15 Jahre alt war. Zu dieser Zeit hatte ich auch eine Freundin. Aber bald mußte ich endgültig einsehen, schwul zu sein. Von meinem Vater wußte ich, daß er schwulenfeindlich eingestellt war, in der Schule wurde darüber gespottet, und so mußte ich auf bessere Zeiten warten, um offen schwul leben zu können.
Frage: Haben Sie heute eine feste Beziehung?
Jörg: Ja, ich habe einen festen Freund, wir leben seit acht Jahren zusammen, und ich denke, wenn man schwul ist, sollte man sich deswegen nicht aufhängen, sondern es als eine von mehreren sexuellen Möglichkeiten und Beziehungen ansehen.
Frage: Könnte es sein, daß Sie schwul geworden sind, weil Sie mit dem Lehrer ins Bett gingen?
Jörg: Auf keinen Fall. Ich erinnere mich, daß meine Eltern schon viel früher mal vermutet haben, ich könnte schwul werden, weil ihnen auffiel, daß ich mich nie für Mädchen interessierte.
Frage: Weiß Ihr Vater, daß Sie heute in einer festen Beziehung mit einem Mann leben?
Jörg: Ja. Vor etwa zehn Jahren habe ich mit ihm ein klares Gespräch über meine sexuellen Vorlieben geführt. Von der jetzigen Beziehung wissen meine Eltern von Anfang an, selbstverständlich auch Rita und Jens, die meinen jetzigen Freund sehr mögen und gelegentlich zu sich einladen.
Frage: Aus der Rückschau betrachtet: Welchen Stellenwert hatten (oder haben noch) Rita und Jens?
Jörg: Rita war so etwas wie meine Pflegemutter, und Jens war mein erster Freund und mein erster Liebhaber.
Frage: Darf ein Mann wie Jens, der einen Jungen gewissermaßen bei sich aufnimmt, mit diesem Kind ins Bett gehen?
Jörg: Ja sicher, wenn beide damit einverstanden sind und es nicht zu Brutalitäten oder zu Zwängen kommt, wenn keine wirtschaftliche Abhängigkeit besteht und keine psychischen Abhängigkeiten. Es muß eine gleichberechtigte Partnerschaft sein.
Frage: Ist eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen einem Kind und einem Erwachsenen überhaupt möglich?
Jörg: Natürlich. Es war zwischen Jens und mir eine gleichberechtigte Partnerschaft. Er hat nie etwas von mir verlangt, hat meine Wünsche und Bedürfnisse respektiert und war auch nie eifersüchtig, wenn ich andere Freunde hatte. Leider war der sexuelle Kontakt zu Jens zu Ende, als Eifersucht die Ehe von Rita und Jens in eine Krise trieb. Mir tut das heute noch leid, und ich glaube, Jens hat auch darunter gelitten. Er hat sich aber nichts anmerken lassen. In allen übrigen Bereichen ist meine Beziehung zu Jens und Rita so eng wie früher auch, und ich denke, daß diese Beziehung ein Leben lang anhalten wird.
Frage: Ich möchte vom sexuellen Aspekt mal weg und auf die schulische und berufliche Laufbahn zurückkommen. Welche berufliche Laufbahn haben Sie eingeschlagen?
Jörg: Nachdem ich in der Gesamtschule den Hauptschulabschluß erreicht hatte, besuchte ich zunächst eine Berufsfachschule und erlernte dann meinen Wunschberuf, Steinmetz, den ich als Schwellenberuf zwischen Handwerk und Kunst ansehe. Ich habe drei Jahre lang in diesem Beruf gelernt und bestand die Prüfung als Bester im gesamten Handwerkskammerbezirk. Da ich das Handwerkliche mit der Kunst verbinden wollte, hängte ich noch eine einjährige Ausbildung als Bildhauer dran und bestand auch die Abschlußprüfung als Steinbildhauer.
Frage: Vom abgeschobenen Sonderschüler zum Bildhauer — fürwahr eine eindrucksvolle Karriere. Sind Sie am Ziel Ihrer beruflichen Wünsche?
Jörg: Nein, noch nicht. Derzeit besuche ich noch die Abendschule, um die Mittlere Reife nachzuholen. Danach möchte ich das Fachabitur machen und die Restauratorenschule besuchen. Vielleicht sogar in Venedig.
Frage: Das alles hört sich wie eine Bilderbuchkarriere aus dem Märchenbuch an. Wo gab es Probleme in Ihrer Freundschaft zu Jens und Rita?
Jörg: Zum einen bedauere ich sehr, daß sich der sexuelle Anteil der Beziehung nicht noch länger gehalten hat. Zum anderen gab es schon so etwas wie Eifersucht von seiten Ritas gegenüber den sexuellen Kontakten zwischen Jens und mir.
Frage: Rita wußte von Anfang an davon?
Jörg: Ja sicher, wir lagen ja im gleichen Ehebett. Manchmal hatte ich das Gefühl, Rita bestraft Jens mit Liebesentzug, weil sich Jens auch um mich kümmerte. Dadurch schien er des öfteren gehemmt zu sein, und ich habe mich manchmal gefragt, ob er kein Interesse mehr hat. Heute weiß ich natürlich, daß das nicht stimmt.
Frage: Hat es Sie gestört, mit einem Mann im Bett zu liegen, und daneben ist eine Frau, die an Sex nicht interessiert ist?
Jörg: Nein, überhaupt nicht. Als Kind denkt man wohl ziemlich egoistisch und möchte die eigenen Bedürfnisse erfüllt bekommen. Aber der Sex spielte überhaupt nicht die große Rolle, wie es vielleicht scheint. Die Beziehung zu Rita hat jedenfalls darunter nicht gelitten, zumindest nicht aus meiner Sicht.
Frage: Aus der Sicht eines fast 30jährigen — welche Vorteile hat Ihnen die Beziehung zu den beiden gebracht?
Jörg: Ich hatte das Glück, eine sexuelle Beziehung zu einem Mann zu haben, der die positive Eigenschaft hat, die Gefühle beider Partner zu achten, nicht egoistisch handelt, keine unerwünschten sexuellen Praktiken versucht und sich selbst eher zurückhält. Es war eine harmonische Partnerschaft. Und Rita hat mich, zusammen mit Jens selbstverständlich, vorbildlich gefördert, sonst wäre ich beruflich längst nicht so weit wie heute. Es war eine glückliche Kombination mit den beiden, die auf mein bisheriges Leben großen Einfluß hatten. Ich möchte sie auch als erwachsene Freunde behalten.