Anmerkung von JUMIMA:
Josef Haslinger bewertet seine Erlebnisse im Kloster Zwettl heute (2020) wesentlich negativer als in untenstehendem Artikel. Seine aktuelle Einschätzung hat er in dem Buch ‘Mein Fall’, S.Fischer Verlag, 2020, dargelegt.
Kommentar der Zeitung:
Dieser Text ist eine Grenzüberschreitung. Er hat auch in der Redaktion Diskussionen ausgelöst. Weil er provoziert und Gefühle verletzen könnte. Wir drucken ihn als Dokument. Der Schriftsteller Josef Haslinger erzählt von seiner Jugend mit pädophilen Priestern und erklärt, warum das Strafgesetzbuch allein nicht weiterhilft.
Josef Haslinger, 1955 in Zwettl / Niederösterreich geboren, ist einer namhaftesten Schriftsteller Österreichs. Sein Roman “Opernball” wurde 1995 ein Bestseller. Zuletzt erschien 2007 sein Buch “Phi Phi Island”, sein Selbsterfahrungsbericht über den Tsunami vom 26. Dezember 2004. Josef Haslinger lehrt literarische Ästhetik am Literaturinstitut in Leipzig.
Immer wenn in Österreich bekannt wird, dass katholische Priester wieder ihren Sexualtrieb nicht im Zaum halten konnten, klingelt bei mir das Telefon. Das hat mittlerweile Tradition. Man tut so, als wäre ich Experte in Fragen der Pädophilie und der Pädosexualität. Ich habe als Kind auf diesem Gebiet Erfahrungen gesammelt, und ich habe darüber geschrieben. Aber ich kann kein Experte sein, denn ich habe früher darüber anders geschrieben als jetzt.
Ich war zwölf Jahre alt, als erstmals ein Priester, mein damaliger Religionslehrer, sich für meinen kleinen Penis interessierte und dabei ganz offensichtlich in Erregung geriet. Ein Zustand, den man als Zwölfjähriger eigentlich nicht kennt, wenn man nicht das Pech hatte, von seinen Eltern mit deren Sexualität belästigt worden zu sein. Es hat eine Weile gedauert, bis mein Religionslehrer sich die intime Annäherung traute. Als er merkte, dass ich es zuließ, suchte er nach Gelegenheiten, das Spielchen zu wiederholen und, wenn möglich, ein wenig auszuweiten. Ich ging mehrere Etappen der Ausweitung dieser Spielchen mit. Es kam mir nicht in den Sinn, ernsthaft dagegen etwas zu unternehmen. Und deshalb war ich auch nicht in der Lage, sie abzustellen.
Diese Kontakte haben mich verstört, wie man so sagt, ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, und ich habe lange Zeit darüber mit niemandem gesprochen. Andere konnten darüber sprechen. Und so kam mir mein erster sakraler Erotikpartner, wenn ich das so ausdrücken darf, noch in der Klosterschule abhanden. Er wurde in ein anderes Kloster, in dem es keine Zöglinge gab, zwangsversetzt.
Dass dieser Mitschüler den Eltern von seinen Erlebnissen erzählte, fand ich mutig. Ein wenig hielt ich es auch für einen Verrat. Aber von da an habe ich natürlich gewusst, dass ich mit meinen Erlebnissen diejenigen, die sie verursachten, erpressen konnte; dass ich ein Mittel der Gegenwehr in der Hand hielt. Und ich habe auch gesehen, wie einfach das ist. Man redet darüber, und der Mann zieht den Kürzeren. Als Kind, insbesondere als Internatsschüler, entwickelt man einen strategischen Sinn. Man kann fies sein gegen jemanden. Ich kannte dieses Mittel, ich habe es oft eingesetzt. Aber nicht gegen die Priester, die mit mir sexuelle Spiele veranstalteten.
Der Skandal hielt sich damals in Grenzen. Ein Priester musste das Kloster wechseln. Warum, hat die Gemeinde nie erfahren. In der Zeitung war darüber nichts zu lesen. Und was meine langsam erwachende Sexualität betraf, so gab es bald andere, die an die frei gewordene Stelle nachrückten. In mir hatten sie die richtige Wahl getroffen. Ich schwieg beharrlich.
15 Jahre später, in den frühen Achtzigern, veröffentlichte ich eine Kurzgeschichte mit dem Titel “Die plötzlichen Geschenke des Himmels”. Darin berichtet ein Ich-Erzähler, dass er als Klosterzögling von seinem Religionslehrer, einem gewissen Pater G., vergewaltigt wurde. Wörtlich heißt es: “Er legte mir sein wulstiges Fleischstück wie eine geweihte Hostie auf die Zunge, lächelte mich an dabei, sagte, na, mach schon, trau dich nur. Ein schaler, nichtssagender Geschmack, ein wenig Ekel. Da stieß es mit einem Mal in meinen Mund hinein, zuckte hin und her, ich konnte ihm nicht mehr entkommen. Mein Kopf wurde von hinten gegen das Haarbüschel gepresst, es reckte mich, wenn der Religionslehrer auf meinen Gaumen stieß, die Speiseröhre hinabschlüpfen wollte…”
Das formulierte ich wohl zu einer Zeit, als ich schon Pornofilme kannte. Gerade diese Szene weicht am weitesten von der Realität ab. In der Folge, so die Geschichte, sei der Ich-Erzähler aus dem Klosterinternat abgehauen, ohne jemandem die Gründe dafür plausibel machen zu können, warum er ins Kloster nicht mehr zurückkehren wolle. Moralisch einwandfreie Fiktion. Würde gut in die heutige Debatte passen. Und gerade darum ist sie schlecht.
Pater G. war eine Zusammenführung von drei Personen, mit denen ich im Alter von zwölf bis 14 Jahren sexuelle Kontakte hatte. Darüber hinaus gab es noch eine vierte Lehrperson, die allerdings aus dem Rahmen fiel, weil sie mich lehrte, dass eine Frau und eine erstaunlich große Kinderschar den Herrn Papa nicht unbedingt davon abhalten, sich für erotische Spielchen mit fremden Knaben zu interessieren. Ich bin, im Gegensatz zu meinem Protagonisten in der Kurzgeschichte, aus dem Klosterkonvikt nie abgehauen, sondern ich habe immer nur davon geträumt. Aber nicht wegen der sexuellen Vorkommnisse.
Die Kurzgeschichte war eine moralische Anklage, nein, eine Entladung. Ich hatte mittlerweile mit der Kirche gebrochen und wollte es ihnen heimzahlen, so drastisch wie möglich. Heute denke ich, es war vor allem das ständige Erniedrigtwerden bis hin zur allgegenwärtigen körperlichen Züchtigung, das im Nachhinein meine Hassgefühle hat wachsen lassen. In den Jahren, in denen außerhalb der Klostermauern über antiautoritäre Erziehung gesprochen wurde, wurden wir von den Protagonisten der Religion der Liebe, auf arabische Art, könnte man sagen, mit dem Stock geschlagen. Die Pädophilen waren in dieser Sphäre von klösterlicher Gewalt eine Oase der Zärtlichkeit. Das Kloster war ein Exzess in dieser und jener Richtung.
Ich muss mir heute eingestehen, dass es viele Möglichkeiten gegeben hätte, die damaligen sexuellen Kontakte abzuwehren und zu unterbinden. Ich habe diese Möglichkeiten nicht genutzt. Ich habe mich nicht gerade angeboten, dazu war ich zu schüchtern, aber ich habe, nach den ersten unerwarteten Annäherungen, schnell gesehen, wer aus einer bestimmten Neigung heraus sich umschaute. Und ich bin solchen Annäherungen nicht ausgewichen, sondern ich habe sie in gewisser Weise als Auszeichnung empfunden.
Ich wurde in die geheime, aufregende Welt der Sexualität eingeführt. Ein Penis, der ejakuliert. Wenn man zwölf Jahre alt ist, will man das endlich einmal sehen. Dass es katholische Priester waren, die mir diese Welt eröffneten, mag ungewöhnlich sein. Aber sie waren ja nicht die einzigen. Ich hatte zu Gleichaltrigen und Älteren dieselben Kontakte wie andere auch. Ich war kein sozial gestörtes Kind, das hilflos dem Triebleben sakraler Päderasten ausgeliefert war. Ich war verstört, weil ich zu dieser Zeit ja auch noch ein sehr religiöser Mensch war und selbst Priester werden wollte. Die moralische Verstörung war weitaus übler als die erotische Konfusion.
Es liegt mir daran, in einem Moment, in dem alle Welt sich plötzlich über solche Vorgänge entrüstet, als hätten sie keine Tradition, nicht nur über die Verstörung, sondern über alle Gefühle Auskunft zu geben. Gefühle, die man gehabt hat, sollte man im Nachhinein nicht einfach zugunsten einer moralischen Entrüstung abschütteln, als hätte es sie nicht gegeben. Es war nicht nur eine Last, ein solches Geheimnis zu haben, es war auch etwas Besonderes.
Neulich, beim Durchstöbern alter Fotos, fiel mir ein Brief aus dem Kloster in die Hände, ein schüchterner Liebesbrief, der mir, dem damals Zwölfjährigen, von einem Ordenspriester geschrieben wurde. Und er hatte ein Foto von sich beigelegt. So erstaunlich, wie ich das heute finde, habe ich das damals gar nicht gefunden. Ich habe mich meiner Mutter gegenüber gebrüstet, dass ein Ordenspriester so vertraut mit mir war, und habe ihr das Foto gezeigt. Sie hat keinen Verdacht geschöpft. Und als mich der zudringliche Pater in den Ferien ins Kloster einlud, bin ich hingefahren.
Ich verstehe, dass die Gesellschaft Pädophilen keinen Freibrief ausstellen kann. Aber ich weiß auch, dass sie zärtlich sind, fürsorglich, liebevoll und weitaus weniger egoistisch als man sich das gemeinhin vorstellt. Sie hätten das gar nicht nötig, weil es Kinder gibt, die sich mit Neugier darauf einlassen. Ich wurde von diesen Erwachsenen sicherlich ausgenutzt, aber ich fühlte mich auch ernst genommen. Wir sprachen ja nicht nur über Sexualität. Einer der drei schrieb Gedichte. Ich kann heute noch eines seiner Gedichte auswendig. Und einmal sprachen wir über das Thema eines Schulaufsatzes, den ich zu schreiben hatte. Als wir uns das nächste Mal trafen, übergab er mir ein mit der Maschine geschriebenes Blatt, auf dem er sich Gedanken zu diesem Thema gemacht hatte. Es waren die Gedanken eines Erwachsenen. Ich baute sie in den Schulaufsatz ein, und da wurden sie plötzlich meine Gedanken. Sie brachten mich weiter. Der Mann hat später geheiratet und Kinder bekommen. Von meinem ersten Partner, jenem, der später in ein anderes Kloster versetzt wurde, kann ich mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass er zu Ehe und Familie gar nicht in der Lage gewesen wäre.
Nachdem ich neulich im Zuge der Missbrauchsdiskussionen im österreichischen Fernsehen über meine Klostererlebnisse berichtet hatte, bekam ich eine E-Mail, in der mir eine Frau erzählte, ein Verwandter von ihr, ein Lehrer, habe sich gerade umgebracht. Er war (zu Recht) beschuldigt worden, einen Schüler unsittlich berührt zu haben.
Passen wir bloß auf, dass wir jetzt keine Hexenjagd inszenieren. Die Kinder sind zu schützen, keine Frage. Und die Opfer haben ein Recht, gehört zu werden. Aber was machen wir mit den Tätern? Es hat einen guten Sinn, dass es im Gesetz Verjährungsfristen gibt. Dafür hat es einmal ein Rechtsempfinden gegeben. Das Hauptaugenmerk kann doch nicht Tätern gelten, deren Straftaten verjährt sind. Alle Menschen sollen eine Chance haben zu lernen, wie man mit seinen Verhaltensweisen innerhalb des gesetzlichen Rahmens bleiben kann. Und wenn sie es gelernt haben, dann haben sie sich mehr angestrengt als so mancher, der jetzt den moralisch Entrüsteten spielt, obwohl er die Fallen einer solchen Neigung nicht einmal ansatzweise kennt.
Das Hauptbestreben der derzeitigen Thematisierung von Pädophilie und Pädosexualität muss es sein, heutige Fälle aufzudecken und künftige zu verhindern. Die Aufarbeitung der Geschichte ist für die Opfer von Bedeutung. Sie haben einen uneingeschränkten Anspruch darauf. Aber die Gesellschaft? Immerhin wird der Intimbereich von Menschen berührt. Von Opfern und von Tätern. Egal wie er beschaffen ist, er steht unter dem Schutz unserer gesellschaftlichen Verfassung. Ich will diese Leute nicht am Pranger vorgeführt bekommen.
Am besten schützt man die Kinder, indem man den Pädophilen hilft, mit ihrer gesellschaftlich nicht gut integrierbaren Neigung auf eine Weise zurande zu kommen, die nicht das Strafgesetz berührt. Aber die derzeitige Kriminalisierungskampagne geht in eine ganz andere Richtung und ist damit nicht hilfreich. Es muss doch möglich sein, einem Menschen, der es offensichtlich nicht aus eigener Kraft schafft, sein Verhalten in den Griff zu bekommen, eine Form von Hilfe anzubieten, die ihm nicht gleich die Menschenrechte abspricht.
Medienaufgeregte Politiker überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man das Strafrecht verschärfen und Verjährungsfristen aufheben könnte. Wenn wir Pädophile mit Kinderschändern und Sexualattentätern gleichsetzen, haben wir zwar ein größeres Medienspektakel, aber es geht uns jeder Maßstab für sinnvolle Maßnahmen verloren. In meinen juristisch ungeschulten Augen sind das unterschiedliche Paragraphen.