Eines Tages fand er aber doch Worte

Dieser autobiographische Bericht stammt aus dem Jungsforum, einem Forum für Männer, die sich zu Jungen hingezogen fühlen. Der Verfasser des Berichts ist langjähriger Nutzer dieses Forums und erzählt ein Erlebnis, welches er als Kind mit seinem Stiefvater hatte.

Dieser Bericht besteht aus einem zentralen Posting im Jungsforum, zwei Bezugnahmen mit weiteren Details in den darauf folgenden Jahren und einem zusätzlichen Kommentar des Autors aus dem Jahr 2021, der unterhalb zu finden ist. Der Verfasser war außerdem zu einem kurzen schriftlichen Interview bereit. Das Ergebnis ist am Ende des Berichts zu finden.


Beitrag aus dem Jungsforum, erstellt am 22. März 2008

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Jenseits des Hohen Liedes auf Jungs, das an diesem Ort bis zur Rosa Wolke hoch gejazzt wird, möchte im Anschluss an deine Offenheit ebenfalls etwas erzählen. Es ist wenig pink, aber andererseits auch nicht traurig, und ich habe es so ähnlich unter meinem früheren Nick vor fünf Jahren mal im Pädoforum geschrieben.

Ich war 13 Jahre alt. Mein Stiefvater, der mich legitimierte und dafür einen ziemlichen Preis von meiner Mutter einforderte - sie hatte ihm bedingungslos zu gehorchen - war wohl schwul, ohne dass ihm das bewusst war. In diesem Alter übte ich mit ihm, der u.a. Musiker war, täglich auf dem Sofa mit meinem Instrument. Immer wieder griff er unvermittelt nicht nur nach den Ventilen sondern auch nach mir und versuchte, sich an mich zu drücken. Es gab dazu und darüber keine verbale Kommunikation. Da er meinen Schritt in Ruhe ließ, interpretierte ich die Situation auch nicht als Übergriff, sondern als seinen Wunsch, mit mir zu rangeln. Darauf ließ ich mich ein, und da ich durchaus kräftig war, zog er jeweils den kürzeren und ließ danach von mir ab. Die Übungseinheiten liefen dann weiter so wie gewohnt.

Eines Tages fand er aber doch Worte. Er wollte mein Gemächte sehen und gab als Vorwand an, mein Sperma zu begutachten, ob ich eigentlich schon Kinder zeugen könnte. Immerhin handelte es sich dabei um die erste mündliche Ansage in diesem Beziehungsthema. Da wurde mir schließlich auch einiges klarer. Im Lichte dieser Deutung empfand ich aber keinerlei Peinlichkeit hinsichtlich dessen, was war, also der Rangeleien, und ich ließ mich auch auf die Erfahrung des Älteren ein, festzustellen, ob ich schon fruchtbar sei. Allerdings wollte ich, dass er auch seinerseits mir eine Präsentation lieferte. Das mochte er nicht, was mich ziemlich ärgerte, und so lief die Geschichte einseitig ab. Er tat dann so, als untersuche er das Sperma, und anschließend wurde weiter trompetet.

Ich habe häufiger versucht, meinen Empfindungen von damals nachzuspüren. Dass ich vor meinem Stiefvater masturbiert habe, verursachte mir eine etwas diffuse Gefühlslage, die mir aber nicht als erniedrigend, peinlich oder gar peinigend in Erinnerung ist. Nichts, wofür ich mich zu schämen hätte. Da passierte nur etwas, was ich sowieso schon mit der Gleichaltrigengruppe ständig praktizierte, und im Nachhinein dieser Situation den Mantel des Missbrauchs überzuhängen, hielte ich in dieser meiner persönlichen Situation für unredlich. Der Alte starb schon vor mehreren Jahrzehnten, aber sein Andenken war und ist zumindest durch diese Situation nicht beschädigt. Durch anderes wohl, aber das hatte mit Gewalttätigkeiten gegenüber meiner Mutter und auch mir zu tun. Dass er schwul war, konnte damals noch gut kaschiert werden. Er hatte immer Freunde, mit denen er auf irgendwelchen Baustellen handwerkerte oder in seinem Garten arbeitete. Wenn sie passabel waren, wurden sie als `Freund der Familie’ eingeführt.

Sicher hat das Verhalten des Stiefvaters mit einer Liebe zu Jungs nur in Ansätzen etwas zu tun gehabt. Aber sexuell getönte Beziehungen zwischen Jungs und Männern empfinde ich eher als normal und sie von vornherein in die Missbrauchskiste zu verbannen, ist kein moralisch höherwertiger Standpunkt. Ich denke, Männer, die ihr Augenmaß bewahren konnten in unserem sozialen Kosmos, werden das ähnlich sehen.

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Beitrag aus dem Jungsforum, Bezugnahme auf den obigen Beitrag am 13. September 2011

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Es wird den Pädos also vorgeworfen, sie würden das Argument der Wahrnehmungsveränderung für ihre Zwecke überbewerten und unangemessen belasten. Das Folgende füge ich hier einfach hinzu.

Ich kann das nicht beurteilen. Mir scheint das aber ein bedeutsamer Aspekt zu sein: Was habe ich gefühlt?

Viele an diesem Ort könnten dazu Erfahrungen beitragen.

Ich habe früher einmal an diesem Ort von einer “Missbrauchshandlung” meines Stiefvaters berichtet. Sie wurde von mir emotional diffus erlebt, und mignon fragte nach. Es gab und gibt aber nichts, was dazu zu sagen wäre. Diffus bleibt diffus, und ich gebe zu, dass eine Fehlinterpretation durch jemanden, dem ich vertraue, zu einer veränderten Wahrnehmung (Das war ne Schweinerei!) geführt hätte. In meiner Erinnerung war es aber keine. So ist das eben. Und Pädos können sich nicht aus einer Welt, in der diese Moral gilt, heraussstehlen.

Padjek


Beitrag aus dem Jungsforum, Bezugnahme auf den Hauptbeitrag am 17. April 2021

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Ich habe vor vielleicht 10 Jahren an diesem Ort die Geschichte des Missbrauchs (?) durch meinen Adoptivvater reingestellt. Ich werde die im Detail nicht erneut erzählen, aber deine Einschätzung trifft schon sehr genau zu. Der Alte machte sich, als ich so dreizehn, vierzehn war, dauernd an mich ran, und ich habe das zugelassen, so weit ich es wollte. Der Bestimmer war sehr eindeutig ich, auch wenn es ein einziges Mal tatsächlich zum Sex kam. Davon konnte ich in dem Alter sowieso nicht genug bekommen. Ich fand, er war ein armes Würstchen, schrecklich verklemmt und im Nachhinein tut er mir leid. Nie, und das ist mir wichtig, habe ich mich als Opfer empfunden. Diese Rolle hätte man mir mit ziemlichem Aufwand erst anschwatzen müssen und ich hätte sie dann akzeptiert, wenn sie finanziell attraktiv gewesen wäre. Das war sie nicht. Der Alte war arm wie eine Kirchenmaus.


Notiz des Verfassers vor Veröffentlichung im April 2021

“Die vom Stiefvater initiierten Rangeleien und Umarmungen hatten das Ziel, mich küssen zu können. Das merkte ich sehr bald, ordnete es aber überhaupt keinen sexuellen Ambitionen zu, sondern sah darin eher ein etwas merkwürdiges Spiel, wer wohl der Stärkere sei, ohne jede erotische Konnotation. Es schien mir nicht bedeutsam zu sein, dies im jf [Jungsforum] zu erwähnen, für eine seriöse Dokumentation ist dieser Hinweis jedoch möglicherweise wichtig.”


Schriftliches Interview mit Wolfgang, alias Padjek, durchgeführt am 23. April 2021

Jumima: Hast du dein Erlebnis mit deinem Stiefvater damals als “schwul” oder ähnliches empfunden?
Wolfgang: Nein.

Jumima: Fühlst du dich selber angezogen von Jungs? Falls ja, glaubst du, dass dies etwas mit deinem damaligen Erlebnis zu tun haben könnte?
Wolfgang: 2a: Ja, auch. 2b: Nein.

Jumima: Würdest du das beschriebene Erlebnis als “Inzest”-Erlebnis einordnen? Warum?
Wolfgang: Nein. Da wäre ich bis eben auch nicht drauf gekommen.

Jumima: Wusste deine Mutter von dieser Dimension eurer Musikübungen?
Wolfgang: Nein.

Jumima: Hättest du ihr davon erzählen können?
Wolfgang: Nein. Für meine sexuellen Erlebnisse, die ja mit den Nachbarkumpels auch stattfanden, gab es und bedurfte es keiner Gesprächspartner. Das war so integriert ins Leben wie z.B. das Niesen.

Jumima: Hattest du jemals Angst vor Entdeckung?
Wolfgang: Nein.

Jumima: Gab es Kommunikation mit deinem Stiefvater darüber, ob diese Dinge geheim bleiben sollten?
Wolfgang: Nein.

Jumima: Das “diffuse Gefühl” ist ein sehr interessanter Teil deiner Schilderungen. Du betonst, dazu nicht mehr sagen zu können. Aber hast du eventuell Thesen, weshalb das Gefühl so diffus ist?
Wolfgang: Das ist die schwierigste Frage, die du mir stellst. Ich konnte dem geschätzten Mignon damals keine Antwort geben, habe dem aber jetzt nochmal etwas nachgespürt – mehr geht jedoch nicht: Das gemeinsame Masturbieren mit den Kumpels aus der Nachbarschaft, die gleichaltrig waren und mit denen ich mich mal zu zweit, mal zu dritt oder zu sechst in abgelegenen Arealen traf, war etwas Alltägliches und Normales und hatte nichts mit Erotik oder Schwulsein zu tun. Es war experimentell oder machte einfach Spaß, und danach ging jeder seiner Wege, oder wir streunten herum oder machten Unfug, bis die Polizei kam. Ich war oft Initiator dieser Sessions und habe in anderen Zusammenhängen, vor allem bei Schulkameraden, eher Ablehnung mit solchen Anregungen erfahren. Hier war es aber die Nachbarschaft. Und ich glaube, dieses unkomplizierte Setting habe ich auf meinen Stiefvater übertragen. Dass das Empfinden dennoch diffus und nicht nur das einer gewohnten Verrichtung war lag dann wohl daran, dass der Altersunterschied natürlich von mir wahrgenommen und als ein möglicherweise störendes Element empfunden wurde, er war halt kein Kumpel mehr, aber auch, dass er eben nicht blank ziehen wollte, wie ich es von den Jungs, auch zum Schwanzvergleich, gewohnt war. Das habe ich in der Situation alles nicht reflektiert.

Jumima: Du schreibst, dass es hätte passieren können, dass du von Außen dazu gebracht worden wärst, die Erlebnisse als rein negativ einzuordnen. Kannst du Faktoren nennen, die dies verhindert haben?
Wolfgang: Im Unterschied zu der Tochter meines guten Freundes habe ich meine sexuelle Biographie für mich behalten, weil sie vergnüglich war und ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, daraus ein Problem zu machen. Ich habe mich also niemals jemandem anvertraut oder anvertrauen müssen, um mich zu entlasten.

Jumima: Wie geht es dir damit, dass du vor dem Gesetz ein Opfer einer Straftat bist?
Wolfgang: Gut. Wäre der Stiefvater, durch welchen Umstand auch immer, deswegen in einen Strafprozess verwickelt worden, hätte ich ihn trotz der anderen Erfahrungen mit ihm nicht in die Pfanne gehauen.