Er wurde eine zweite Vaterfigur

In einem Beitrag im New Zealand Journal of Sociology gibt Terry Leahy Auschnitte verschiedener Interviews mit Männern wieder, die als Junge eine Beziehung zu einem Mann hatten. Die veröffentlicheten Auschnitte aus dem Interview mit Christopher sind hier widergegeben. Die weiteren Interviews mit anderen Männern sind bruchstückhaft, können aber im frei verfügbaren PDF des Artikels nachgelesen werden.

Quelle: Terry Leahy (1992). “Positively Experienced Man/Boy Sex: The Discourse of Seduction and the Social Construction of Masculinity”. Australian and New Zealand Journal of Sociology, 28(1), S. 71-88.

Übersetzung durch JUMIMA.
Englischer Originaltext


Christophers Interview erlaubt eine gründliche Diskussion dieser Themen. Als er interviewt wurde, war er Mitte dreißig. Seine Beziehung zu einem erwachsenen schwulen Mann, George, begann mit neun Jahren und dauerte bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr. In einem ironischen Kommentar zum Diskurs der Verführung bot er diese Bemerkung an:

Christopher: “Also, ich nehme an, du willst jetzt wissen, ob ich jetzt wegen dieses schrecklichen Traumas meiner Kindheit sexuell kaputt [fucked up] bin? Nun – nein. Mein Hauptschub [main thrust] – Wortspiel! – ist heterosexuell, aber ich schlafe immer noch gelegentlich mit Männern. Doch wenn ich gelegentlich sage, meine ich sehr gelegentlich.”

Bei der Erörterung der verschiedenen sexuellen Aktivitäten, an denen er beteiligt war, betont Christopher insbesondere die körperlichen Freuden verschiedener Handlungen und argumentiert, dass seine anfänglichen Vorbehalte gegenüber bestimmten Praktiken (Oralsex, Analsex) abgebaut wurden, als er körperliche Freude durch diese Aktivitäten erfuhr und zu der Ansicht kam, dass es nur fair war, sich zu revanchieren.

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Um diese Themen für sich zu verstehen, unterscheidet Christopher zwischen seiner Sexualität und seinen sexuellen Praktiken in dieser Zeit. Er bezieht sich auf eine Begebenheit, als seine Mutter versuchte herauszufinden, ob er homosexuell war. Sie erkundigte sich dazu bei Freunden und Christopher bestritt trotz seiner Beziehung zu George jegliche Homosexualität:

Christopher: “Sie hatte Recht, ich war zu diesem Zeitpunkt im Grunde genommen schwul – praktisch gesehen stimmt das. Aber ich habe mich nie so gefühlt … Eigentlich gab es einen deutlichen Unterschied zwischen meiner sexuellen Praxis, nämlich, dass ich als Junge in einer jungenhaften Welt aufgewachsen bin. Ich ging raus und versuchte, eine Frau ins Bett zu kriegen, nicht einen Kerl. Aber gleichzeitig hatte ich meine Beziehung zu George und Fred, ohne dass mir das in irgendeiner Weise wie ein Widerspruch vorkam. Ja.”

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Er bezieht sich auf eine frühe Phase seiner altersübergreifenden Beziehung wie folgt:

Christopher: “Was er getan hat, hat mich ermutigt, meine Samstage dort zu verbringen, im Laden zu arbeiten und Dinge zu tun, was einerseits ein Vorwand für ihn war, mir nahe zu kommen, aber andererseits habe ich auch jede Menge daraus gezogen. Es war nicht nur er, der versucht hat, mich da reinzuziehen. Ich meine, ich … er hat sein Wissen geteilt und eine Art Patron-Rolle mir gegenüber eingenommen, nehme ich an. ‘Patron’ ist nicht das richtige Wort. In diesem griechischen Sinne von einer Vaterfigur, die nicht unbedingt dein richtiger Vater ist, aber die – es gibt ein Wort, ich komme nicht drauf … Er hat mit Sicherheit viele der Rollen ausgefüllt, die mein eigener Vater nicht für mich ausfüllen konnte.”

Wie in den oben erwähnten sozialpsychologischen Texten bezieht Christopher diese Mentorrolle auf sein Bedürfnis, über das hinauszugehen, was ihm von seinen Eltern her zur Verfügung stand. Er behauptet, dass seine Abkehr von seinen Eltern in dieser Zeit ein Beispiel für “wahrscheinlich normale Meinungsverschiedenheiten bei Jugendlichen und die Verlagerung von Gefühlen der Nähe oder Zuneigung oder Liebe, was auch immer, in Richtung des einen oder anderen” war. Dieses Gefühl, dass die Ablösung von den Eltern ein normaler und nützlicher Teil der Jugend ist, prägt seine Darstellung des Reizes seiner Beziehung zu George:

Christopher: “Und es war sicherlich keine reine, keine bloß sexuelle Beziehung, da er mich in jenen frühen Tagen meines Lebens mit etwas versorgt hat, das ich in meinem Familienleben nicht bekommen habe. Eine Art von Existenz außerhalb. In einer Welt, die mit etwas zu tun hatte, mit dem meine unmittelbare Familien- und Schulwelt überhaupt nichts zu tun hatte, mit anderen Worten einer Kunstwelt. Speziell die Welt der Kultur mit einem großen K [with a capital C]. Von der ich nichts gewusst hatte und mit der ich keinen Kontakt hatte. Da meine Eltern arm waren, gingen wir nicht ins Theater oder so etwas … Er wurde eine zweite Vaterfigur zusätzlich zu meiner eigenen Vaterfigur. Und für eine Weile habe ich mich sicherlich gegen meine Familie gewandt und bevorzugte ihn, wenn Sie so wollen. Aber ähm, die Art und Weise, wie ich jetzt denke, ist ganz anders hinsichtlich dieser Sache … was ich tat war ein klassischer Fall davon, dass ein Kind die Familie ablehnt und er hat mir einen einfachen Weg dafür geboten.”

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Christopher: “Es gab zu dieser Zeit definitiv eine Anti-Schwulen-Mentalität [poofter bashing mentality]. Und ich wollte nicht, dass jemand [über diese Beziehung] Bescheid wusste. Aber gleichzeitig war das auch zu einem gewissen Grad gegen eine Tendenz in mir, nicht unbedingt den Vorstellungen der Gesellschaft entsprechen zu wollen, und es lief einem inneren Gefühl von mir zuwider, dass dies nicht richtig war. Weißt du … innerhalb der Werte [terms], in denen ich erzogen worden war, der christlichen Ethik, war es nicht richtig. Ich nehme an, so sehe ich die Beziehung heute und wie ich mich dabei damals instinktiv fühlte. Dass, trotz all meiner Schuldgefühle und trotz der Religion und trotz des Drucks auf mich durch Gleichaltrige und die Gesellschaft im Allgemeinen, Schwule herunterzumachen, dass es einfach nicht richtig war, wissen Sie.”

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Interviewer: Wenn jemand Ihnen gegenüber die Ansicht vertritt, dass Sie nicht wegen sexuellen Interesses mit George intim wurden, sondern (1) weil er wollte, dass Sie es tun, und (2) weil es keine sexuellen Möglichkeiten mit Frauen gab, was würden Sie sagen?

Christopher: “Oh, ich würde sagen, es ist wahrscheinlich richtig. (Pause) Ich meine, es ist in OK, weil es eine gute Beziehung war. Aber wahrscheinlich ist es wahr, das ist der Grund, warum es begann … weil die Pubertät kam oder mich erwischt hatte oder was auch immer und ich hatte keine Möglichkeit, sie zu lenken, und jemand kam vorbei und spürte das entweder oder wollte mich oder nutze mich für seine eigenen Zwecke. Ich meine, es ist mir egal, ob er mich für seine eigenen Zwecke nutze – das ist auch in Ordnung.”

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