Quelle und vollständiges Vorwort und Exzerpte aus dem Buch
Fallbeispiel aus dem Buch ‘The Trauma Myth’ von Susan A. Clancy, New York, N.Y. 2009. In dem Buch werden noch viele weitere Fallbeispiele von Mädchen und Jungen zitiert.
VORWORT
Herbst 1996
Frank Girard, ein 42jähriger Steuerberater, hatte in seinem 9. Lebensjahr während einer sechsmonatigen Periode sexuelle Erfahrungen mit einem Freund der Familie, einem Mann mittleren Alters. Frank hielt geheim, was geschah. An der Wurzel seines Schweigens ist Scham. Er sieht das, was geschah, als seinen Fehler, und folglich muss „etwas falsch sein“ mit ihm – dass es geschah, weil er auf eine Art „aberrant“ war. Damit erklärt er Probleme, die er in letzter Zeit in der Arbeit und der Familie bekam, und die er mit seinen Kindheitserfahrungen in Zusammenhang bringt.
Als Frank mir das sagte, war ich eine Graduate Studentin an der Harvard University und begann gerade das Forschungsprojekt über sexuellen Missbrauch. Was er mir sagte, war schockierend. Nicht dass er diese Erfahrungen gemacht hatte, war schockierend. Forscher auf diesem Gebiet wissen, dass sexueller Missbrauch verbreitet ist. Was mich schockierte waren Franks Schilderungen seiner Reaktionen, während es mit ihm geschah. Was allmählich, von langen Pausen, vielen Seufzern und gelegentlichen Tränen begleitet, auftauchte war, dass Frank nichts dagegen hatte, während der Missbrauch geschah. Als Kind mochte er diesen Mann, und er schätzte seine Aufmerksamkeit. Und manchmal fühlte sich das, was sie taten, gut an. Als der Mann aus der Stadt wegzog, war Frank aufgewühlt (upset). Er vermisste ihn und die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten.
Während mehr als drei Dekaden haben zuerst die Experten und dann die Öffentlichkeit sexuellen Missbrauch als eine – während er geschieht – für das Kind schreckliche Erfahrung verstanden – als etwas, was ausnahmslos gegen den Willen eines erschreckten Kindes vorgenommen wird. Aber Frank empfand den Missbrauch, während er geschah, anders. Bevor er aus meinem Büro ging, stellte er mir eine Frage: „Was ich ihnen erzählt habe… wie häufig kommt das vor?“ Ich begann: „Frank… ungefähr jedes fünfte Kind…“
Aber er unterbrach mich. „Nein, nicht das, ich weiss, dass Kinder missbraucht werden. Es steht die ganze Zeit in den Zeitungen… Was ich frage ist, ob andere Kinder darauf ebenso reagieren wie ich… verstehen Sie? Ob sie das tun, was ich tat?“
Frank bezog sich auf die Tatsache, dass die Erfahrungen, die er hatte, nicht erzwungen waren – weil er den Mann gern hatte und die Zeit genoss, die sie zusammen verbrachten. Frank widersetzte sich auf keine Weise dem Sex. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diese Frage beantworten sollte. Zu jener Zeit war ich sicher, dass Frank ein aussergewöhnliches Opfer war, aber ich wollte ihm das nicht sagen, weil ich das Gefühl hatte, dass er das nicht wissen wollte.
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