Eine Kindheit voller Neugier

Dieser Bericht ist dem Buch Heimliche Liebe von Wolf Vogel entnommen. Es ist nicht ganz sicher, aber es schein als sei dieser Bericht autobiografisch. Wir bitten um Hinweise die dies bestätigen oder widerlegen.

Quelle: Wolf Vogel, Heimliche Liebe - Eros zwischen Knabe und Mann, Jahn & Ernst, Hamburg, 1997. ISBN 3-89407-173-7.


Seit ein paar Jahren wird viel über Sex von Erwachsenen mit Kindern geschrieben . Dabei fällt auf, daß selbst liberal denkende Eltern sexuelle Aktivitäten ihrer Kinder nur dann erlauben oder zumindest dulden, wenn sie sich zwischen Gleichaltrigen abspielen. Die meisten Erwachsenen bekommen aber Angst bei dem Gedanken, ein Kind könnte mit einem Volljährigen — gar mit einem Fremden — Zärtlichkeiten austauschen, die unter der Gürtellinie liegen. Mich interessiert dieses Thema, denn ich war ja selbst ein Kind und in mir sind noch viele Erinnerungen aus meiner Kindheit wachgeblieben. Einige Erlebnisse, Wünsche, Begierden, habe ich mit großer Detailschärfe vor Augen.

Ich wurde in den letzten Kriegswirren geboren. Die ersten Jahre meiner Kindheit waren also geprägt von Entbehrung, von Angst vor Fliegeralarm, von Notunterkünften, Flucht, Umzügen und ständig wechselnden Bezugspersonen. Als ich sieben Jahre alt war, zogen meine Mutter und ich in eine süddeutsche Stadt. Nun kam Ruhe in mein Leben; ab dieser Zeit begannen sich viele Erlebnisse unauslöschlich in meiner Erinnerung festzusetzen.

Ich wurde eingeschult und lernte erstmals dauerhafte Freunde kennen. Da ich ein Zugezogener war, begannen sich andere Kinder für mich zu interessieren. Ich sprach einen anderen Dialekt als sie, hatte andere Umgangsformen. Zur warmen Jahreszeit spielten wir, lediglich mit Badehose bekleidet, zusammen in den Häuserruinen, die der Krieg übriggelassen hatte. Die großen Buben zogen uns kleineren schon mal die Badehose herunter, daß wir nackt dastanden. Ich mochte das nicht, denn niemand hatte mich um die Erlaubnis dazu gefragt. Mich störte weniger das Nacktsein, denn in den Ruinen sah uns kein Fremder. Der plötzliche Überfall war mir unangenehm, etwa so, wie wenn mich ein größerer Junge beim Baden ins Wasser stieß oder den Kopf unter Wasser drückte.

Mit etwa acht Jahren war meine Kindheit herrlich. Das Leben auf der Straße war faszinierend und voller Abenteuer. Ich kann mich nicht erinnern, während der ersten vier Schuljahre viel Zeit für Schulaufgaben verwendet zu haben. Gleich nach dem Mittagessen traf ich meine Freunde auf der Straße. Wir kletterten in den Ruinen herum, erforschten mit viel Herzklopfen verschüttete dunkle Kellergänge, bewunderten die Großen bei deren ersten Rauchversuchen oder turnten über die Zäune fremder Gärten, um Äpfel, Birnen und Quitten zu pflücken. Wie das Obst schmeckte, war gleichgültig; was zählte, war das Abenteuer. Quitten zum Beispiel schmeckten so entsetzlich, daß ich noch heute keine mag.

Oft lief ich auch allein durch die Straßen meines Wohnviertels, auf der Suche nach neuen und spannenden Erlebnissen. Ich erinnere mich an einen Arbeiter in einer Straßenbaugrube. Er mochte etwa dreißig Jahre alt gewesen sein. Wegen der Hitze war sein Oberkörper unbekleidet. Er und seine Tätigkeit faszinierten mich. Ich blieb lange stehen, um ihm bei seiner Arbeit zuzusehen. Er lächelte mir zu, als ich mich für ihn zu interessieren begann. Ich war selig. Hätte er mich in die Baugrube geholt, gar noch in den Arm genommen und gestreichelt — ich wäre fast verrückt geworden vor Freude und Stolz. Ich sah ihn keineswegs als Vater-Ersatz, nachdem mein Vater aus dem Krieg nicht mehr heimgekommen war. Ich kann mich auch nicht erinnern, daß ich das fühlte, was die Erwachsenen eine erotische Ausstrahlung nennen. Kinder formulieren solche Begriffe nicht. Kinder fühlen mit dem Herzen. Wenn ein Erwachsener nett zu ihnen ist, mögen sie ihn. Für Kinder ist nur wichtig, daß er ihnen körperlich nicht weh tut und keine seelische Qual bereitet, zum Beispiel die Mutter schlecht macht. Der Bauarbeiter hat mich nicht zu sich in die Grube geholt. Dennoch ging ich jeden Tag zur Baustelle. Irgendwann war die Grube zu, der Mann nicht mehr da. Ich war traurig.

Fasziniert haben mich in diesem Alter auch Baggerführer. In einigen Ruinen wurde bereits der Schutt weggeräumt und manchmal wurden richtige Bagger eingesetzt. Meist wurde ich allerdings mit harschen Worten weggeschickt, offenbar wegen der Befürchtung, ich könnte unter die Trümmer oder die Maschinen geraten. Erwachsene wissen oft nicht, oder haben es aus ihrer eigenen Kindheit vergessen, daß Kinder sehr vorsichtig sind in dem, was sie tun. Sonst würde es sehr viel mehr Arm- und Beinbrüche oder gar Todesfälle geben. Die meisten Kinder sterben heute durch rasende Autofahrer.

Zurück zum Baggerführer. Einer nahm mich in seine Kabine. Stolz saß ich auf seinen Knien, hörte aufmerksam zu, welcher Hebel für welche Bewegung zuständig war und spürte durch die Hände des Baggerführers auf meinem nackten Bauch ein wohliges Kribbeln, das meinen ganzen Körper durchzog. Hätte mir der Mann die Badehose ausgezogen und mich gestreichelt, ich wäre gewiß mit geschlossenen Augen in seine Arme gesunken. Ich blieb unberührt und wandte mich neuen Abenteuern zu.

Mit Neun kam meine erste Zeit der Fußballspiele. Wir spielten mit einem Tennisball quer über die Straße; die Kellerlöcher markierten die Tore. Gelegentlich mußten wir wegen eines durchfahrenden Autos das Spiel unterbrechen, aber das störte nicht weiter. Ich war der Jüngste und Kleinste unter den Buben. Deshalb durfte ich nur mitspielen, wenn wegen der ungeraden Zahl der Mitwirkenden noch einer fehlte.

Meine sportliche Karriere begann auf dem unbeliebten Linksaußen-Posten. Es blieb nicht aus, daß durch einen starken Torschuß das Kellerfenstergitter aufsprang und der Ball im dunklen Keller verschwand. Ich mußte ihn wieder holen, sonst wäre ich von der Mannschaft ausgeschlossen worden, und das wollte ich nicht. Also ließ ich mich durch den engen Schacht in die Finsternis hinunter und suchte zwischen Verschlägen mit Kohlen und Kartoffeln und grob gezimmerten Regalen mit Einge-machtem nach dem verschwundenen Ball. Es wäre uns nie in den Sinn gekommen, aus dem Keller etwas wegzunehmen. Wir wollten den Tennisball zurückhaben, um weiterspielen zu können. Toreschießen war wichtiger als eingemachtes Obst oder saure Gurken.

Der größte Junge unserer Fußballgruppe war ein Vierzehnjähriger. Für einen Neunjährigen ist ein Vierzehnjähriger fast erwachsen. Ich verehrte und bewunderte diesen Jungen. Er spielte zwar nur mittelmäßigen Fußball, aber er hütete ein Geheimnis: er mußte für seine Mutter regelmäßig geheimnisvolle Pakete aus der Apotheke kaufen. Sie waren in Zeitungspapier eingewickelt. Auf meine Bitte hin wickelte er ein Paket aus. Es kam ein Karton zum Vorschein, darauf stand: Camelia. Es hatte irgend etwas mit seiner Mutter, mit Frauen allgemein zu tun. Die brauchten sowas. Da ich mich in diesem Alter nicht für Frauen interessierte, war mir auch reichlich gleichgültig, wozu sie diese Camelia haben wollten. Und warum der Karton stets in Zeitungspapier eingewickelt war, habe ich auch in späteren Jahren nie verstanden.

Viel wichtiger war mir der Junge selbst. Er hatte schon Haare. Ich konnte es beim Blick in die Turnhose deutlich sehen. Niemand trug damals eine Unterhose. Also ließ ich mich des öfteren mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden fallen. Fürsorglich beugte er sich über mich, um nach meiner Verletzung zu schauen. Ich blickte in seine offene Turnhose und wäre am liebsten liegengeblieben.


In einem Park der Stadt campierten amerikanische Soldaten in kleinen olivgrünen Zelten. Wir besuchten die Soldaten fast jeden Tag. Sie schenkten uns Cornedbeef in Dosen und Zigaretten. Die Zigaretten brauchte ich nicht, ich warf sie auf dem Heimweg ins Gebüsch. Das Cornedbeef brachte ich nach Hause. Es schmeckte großartig. Meine Mutter fragte, woher ich es habe. Geschenkt bekommen, sagte ich. Hätte sie weitergefragt, hätte ich gewiß entsprechende Ausreden gehabt.

Manchmal krochen wir zu den Soldaten ins enge Zelt. Wir lagen mit ihnen Arm in Arm und ließen uns streicheln. Es war wunderbar. Die Männerhand ging auch in die Bade- oder Turnhose. Ich unterschied nicht nach anständig oder unanständig; Gestreicheltwerden war einfach schön, egal wo.

Die Soldaten stellten uns Fragen in einer Sprache, die wir nicht verstanden. Es störte uns nicht, belustigte uns eher. Einmal nahm ein Soldat, bei dem ich im Arm liegen durfte, meine Hand und führte sie zu seiner Hose. Mein Herz klopfte vor Aufregung. Ich traute mich nicht, ihm die Hose zu öffnen, also nahm ich die Hand wieder weg. Der Soldat lächelte.

Vor fremden Männern bin ich nie gewarnt worden. In den Nachkriegsjahren hatten die Menschen andere Sorgen, als sich um vermeintliche Sittenstrolche zu kümmern. Ich selbst habe meine eigenen Kinder nie vor fremden Männern gewarnt. Meine beiden Buben haben oft Freunde zu uns nach Hause mitgebracht, auch zum Übernachten. Der jüngere hatte auch einige erwachsene Freunde. Ich machte ihm zur Bedingung, daß ich diese Erwachsenen kennenlernen wollte. Nur einer war offenbar nicht dazu bereit; mein Sohn hat auch nie wieder von ihm erzählt. Es ist möglich, daß mein Jüngster mit den befreundeten Erwachsenen auch Sex hatte, denn er durfte bei ihnen übernachten. Ich fragte ihn nie aus; er selbst erzählte viel. Ich glaube, er hätte meiner Frau und mir sofort mitgeteilt, wenn er einmal gegen seinen Willen behandelt worden wäre. Er pflegt die Freundschaften zu seinen männlichen Bekannten noch heute.

Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich einen Busenfreund; wir waren unzertrennlich. Bei jeder günstigen Gelegenheit verkrochen wir uns ins Gebüsch, um einzelne Körperteile einer sorgfältigen Begutachtung zu unterziehen. Am spannendsten war die Untersuchung von Penis und Po. Zugunsten dieser beiden Körperteile verschoben wir stets die Untersuchung anderer Körperregionen. Damit wir alles besser sehen konnten, zogen wir uns nackt aus; eine alte rostige Taschenlampe, ein Geschenk der amerikanischen Soldaten, brachte weitere Aufklärung. Wie die Mädchen aussahen, interessierte uns in diesem Alter nicht sonderlich. Wir wollten wissen, wie wir Jungen beschaffen waren. Gern hätte ich auch andere Schulfreunde so ausgiebig untersucht, traute mich aber nicht, weil ich fürchtete, mein Busenfreund würde deshalb eifersüchtig werden.

In dieser Zeit trat ich einer christlichen Jugendgruppe bei. Ich hatte von solchen Zusammenkünften gehört. Es wurde erzählt, der Gruppenführer oder der Kaplan würden auf Zeltlagern einen Jungen zu sich mit ins Zelt nehmen, und beide würden nachts allerhand Sachen miteinander machen. Mehr erfuhr ich zu meinem Kummer nicht. Eines war klar: ich mußte in eine solche Gruppe. Ich wollte an dem Zeltlager teilnehmen, wollte mit einem Erwachsenen ins Zelt, wollte allerhand Sachen mit ihm machen. Genaues vermochte ich mir nicht vorzustellen, aber das Abenteuer lockte, soviel war klar.

Nach zwei Jahren bin ich wieder aus der Jugendgruppe ausgetreten, völlig desillusioniert. Nichts, aber auch gar nichts hatte sich ereignet, jedenfalls nicht mit mir. Vielleicht war ich nicht attraktiv genug, vielleicht waren meine Erwartungen zu hoch gesteckt gewesen. Was immer ich versuchte — ich mußte stets mit Gleichaltrigen im Zelt übernachten. Deren nächtlichen Spiele kannte ich aus meinem Straßenalltag. Auch die Lagerfeuer hatten nicht die erhoffte Faszination, da wir oft in den Häuserruinen kleine Feuer anzündeten. Die Jugendgruppe bot also nichts entscheidend Neues. Ich mußte die Männer in meiner Stadt suchen, nicht in unberührter Natur. Die amerikanischen Soldaten waren zwischenzeitlich abgezogen, sie kamen nie wieder zurück.

In der Nähe unserer Wohnung waren Tennisplätze. Nur wenige hatten damals Zeit und Geld, Tennis zu spielen. Es waren wohl Akademiker, die sich nach Feierabend zu einem Spiel trafen. Stundenlang schaute ich ihnen zu, bis ich nach Hause mußte. Aus dieser Zeit stammt noch heute meine Liebe zu dieser Sportart.

Eines Tages wurde ich gefragt, ob ich als Balljunge fungieren wolle. Ich war begeistert. Fortan verdiente ich mir ein paar Groschen auf dem Tennisplatz. Es war meine erste Arbeitsstelle. Ich hätte sie mir von keinem Menschen ausreden lassen. Schließlich war ich fast zwölf Jahre alt. Es gab fünfzig Pfennig pro Stunde, ein Vermögen, denn außer dem sonntäglichen Kinobesuch konnte man kein Geld ausgeben.

Einer der Tennisspieler lud mich nach seinem Spiel zum Duschen ein. Er war so etwas wie der Platzwart und hatte als letzter alle Türen des Vereinshauses abzuschließen, so daß wir am Ende allein waren. Glücklicherweise war Samstagnachmittag, ich hatte noch genug Zeit. Es gab nur eine Dusche, und das Wasser war eher lauwarm als heiß. Ich stellte mich nackt mit ihm unter die Dusche und er seifte mich ein. Es war mir angenehm. Nach dem Abtrocknen gab er mir einen Kuß auf die Stirn. Ich sah ihn als meinen großen Vertrauten an. Leider duschten wir später nur noch einmal, die übrigen Male mußte er schnell nach Hause.

An sein Alter kann ich mich nicht mehr so recht erinnern. Für Kinder ist das Alter eines Erwachsenen, den es mag, ohnehin nicht wichtig. Wichtig ist allein, wie er sich den Kindern gegenüber verhält. Im Gymnasium hatten wir in der Quinta einen Deutschlehrer, der wohl kurz vor der Pensionierung stand.

Obwohl dieser Lehrer außergewöhnlich streng war, genoß er bei uns Schülern großes Vertrauen. Er war streng, aber gerecht, so lautete unser Urteil. Daß er uns mehr als andere Lehrer zu Strafarbeiten und Nachsitzen verdonnerte, verziehen wir ihm. Kinder haben oft einen für Erwachsene schwer verständlichen Gerechtigkeitssinn. Vielleicht empfanden wir unseren Deutschlehrer deshalb als gerecht, weil wir stets in der sechsten Schulstunde und nicht am Nachmittag nachsitzen mußten. Dadurch erfuhren unsere Eltern nichts von unseren Schulstreichen.

Ein Jahr lang rannte ich den Bällen auf dem Tennisplatz nach. Meine Mutter hatte zwischenzeitlich davon erfahren, weil mich ein Mitschüler verpfiffen hatte. Sie deutete an, daß sie diese Beschäftigung nicht gerade gern sähe. Sie hatte Angst, ich würde die Schulaufgaben vernachlässigen, da ich schon im zweiten Jahr das Gymnasium besuchte und tatsächlich jeden Tag irrsinnig viele Arbeiten für die Schule zu erledigen waren. Den Job als Balljunge gab ich erst auf, als ich einem Fußballverein beitrat. Ich fühlte die Zeit gekommen, nun aktiv ins sportliche Geschehen einzugreifen.

Als Zwölfjähriger ging ich nicht gern zur Schule. Ich habe in meinem späteren Leben nur wenige Zwölfjährige kennengelernt, die gern zur Schule gingen, meine eigenen Söhne eingeschlossen. Wie gut für mich, daß es im Gymnasium zwischen den Unterrichtsstunden wenigstens gelegentlich etwas zu erleben gab. Die gleichseitigen Dreiecke und französischen Vokabeln waren öde genug.

In den Unterrichtspausen suchten wir im Kohlenkeller der Schule nach Schätzen. Wir fanden seltene Briefmarken aus der Schulkorrespondenz, die zum Verfeuern im Keller lag. Und wir fanden einen besonderen Schatz: nämlich die schriftlichen Vokabel-Tests unserer Französisch-Lehrerin. Ohne Vorankündigung hatten sie uns wie der Blitz aus heiterem Himmel getroffen, für die meisten von uns eine Fünf oder Sechs gebracht, und sollten als warnender Hinweis an unsere Eltern zum Unterschreiben geschickt werden. Hier lagen sie also zum Verbrennen, ohne daß die Eltern sie gesehen hatten, und wir glaubten der Lehrerin fortan kein Wort mehr.

Alsbald wandten wir uns wieder unserer Lieblingsbeschäftigung im Schulkeller zu: Sex unter Schulfreunden, bis die Pause zu Ende war. Mädchen waren damals an unserem Gymnasium nicht zugelassen. Einige meiner Freunde hatten mit zwölf bereits Schamhaare. Ich kam mir ziemlich zurückgeblieben vor, auch was die Aktivitäten betraf Die anderen waren viel forscher, viel wagemutiger und aktiver als ich. Wäre ich als Kind nicht so schüchtern gewesen, hätte ich wahrscheinlich viel mehr sexuelle Erlebnisse auch mit Erwachsenen gehabt.

Lange Zeit habe ich mich gewundert, daß ich so viele Details aus meiner Kindheit über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten in der Erinnerung habe bewahren können. Dann fiel mir auf, daß ich die Ereignisse mit einer bestimmten Schulklasse, mehr noch: mit den jeweiligen Lehrern verband. In der ersten und zweiten Klasse hatte ich eine Lehrerin, in der dritten und vierten Klasse eine andere. Ab der Gymnasialzeit hatten wir in jedem Schuljahr einen neuen Klassenlehrer. Dadurch vermag ich viele Erlebnisse exakt einzuordnen.

Mein Busenfreund hatte von seiner Tante zum Geburtstag einmal die horrende Summe von fünf Mark geschenkt bekommen. Wir beratschlagten, was sich mit so viel Geld wohl anfangen ließ. Zuerst gingen wir ins Kino. „Fanfaren der Liebe“ hieß der Film und er war erst ab achtzehn Jahre freigegeben. Wir schafften es trotzdem, die Verkäuferin an der Kinokasse zu überlisten. Wir sagten, wir wollten die Karten für unsere Väter kaufen. Später schmuggelten wir uns im Schutz der Dun-kelheit in den Filmsaal (die „Fox – tönende - Wochenschau“ hatte schon angefangen), umgingen die Platzanweiserin und setzten uns in eine Ecke. Es war ein Liebesfilm, entsetzlich langweilig für uns Buben, und wir wären bereits nach wenigen Minuten aus dem Saal geflohen, hätte uns nicht das Bewußtsein zurückgehalten, in einem verbotenen Film zu sein. So konnten wir am nächsten Tag in der Schulklasse ganz lässig fragen, wer eigentlich schon „Fanfaren der Liebe“ gesehen habe. Selbst-redend hatte keiner den Film gesehen, und so berichteten wir herablassend, er sei nicht schlecht gemacht. Viele Sexszenen und so. Die Augen der Mitschüler glänzten vor Neid.

Einer der Klassenkameraden konnte dennoch etwas Lohnendes vorweisen: Seine Tante besaß einen Schrebergarten mit einem Holzhäuschen. Daß um den Garten ein drei Meter hoher Holzzaun gezogen war, ist für einen zwölfjährigen Jungen ohne Bedeutung. Der Zaun ließ sich spielend überklettern. Al-lerdings hatte es uns nicht das Obst angetan, wir waren schließlich keine Kinder mehr, sondern die Holzhütte. Sie erlebte meine ersten Versuche, mich mit Zigaretten anzufreunden. Vier Zigaretten kosteten damals drei Groschen. Geld hatten wir: Ich hatte noch Gespartes vom Tennisplatz, und auch von den fünf Mark war noch was übrig. Die Zigaretten schmeckten nicht, machten uns aber erwachsen. Zwei Jahre später habe ich diesen Irrtum eingesehen und seither nie mehr geraucht.

Mit meinen schulischen Leistungen ging es altersbedingt bergab. Ich habe mir in späteren Erwachsenenjahren oft vorgestellt, was ein erwachsener Freund eventuell an Leistungsmotivation hätte bewirkt haben können. Ich habe bei meinem Sohn erlebt, daß er in diesem Alter weder für sich und seine Zukunft, schon gar nicht für seine Eltern mathematische Formeln und englische Vokabeln paukte. Er tat es für seinen damaligen erwachsenen Freund, der gottlob Lehrer war und außer den fachlichen Kenntnissen wohl auch den richtigen Umgangston mitbrachte.

Einen wichtigen Platz in meiner frühen Jugend nahm der Fußballverein ein. Ich war ein guter Fußballspieler geworden und mußte nie bangen, in die zweite Mannschaft abgeschoben zu werden. Ich durfte sogar Wünsche äußern, auf welchem Posten ich gern spielen würde. Anfangs beschied ich mich mit dem wenig spektakulären Mittelfeld; nach gewachsenem Selbstvertrauen spielte ich fortan in der Sturmreihe und schoß in meiner Mannschaft die meisten Tore. Ich fühlte mich als Held auf dem Fußballplatz. Was zählten da die blöde Penne und die doofen Schulaufgaben! Auch zu dem Trainer hatte ich ein ausgezeichnetes Verhältnis. Er war Mitte Dreißig und nahm uns beim Training ziemlich hart dran. Hätte ich mit der Mannschaft nicht so viel Erfolg gehabt, wäre mir die Anstrengung beim Training bald zuviel geworden.

Im Winter trainierten wir in der Sporthalle einer Schule. Hier konnte auch geduscht werden. Meine Fußballkameraden suchten nach dem Training aber meist schnell das Weite, und ich half dem Trainer, die Sportgeräte wegzuräumen. Eines Abends fragte er mich, ob ich Lust habe, mit ihm zu duschen. Ich fand das eine tolle Idee. Als wir nackt unter der Dusche standen, schaute ich ihn unentwegt an. Er fragte mich, ob er mir gefallen würde. Ich bejahte. „Du gefällst mir auch“, sagte er. Ich war mächtig stolz, zumal ich zwischenzeitlich ein paar Schamhaare bekommen hatte und wenige Wochen zuvor meinen ersten richtigen Samenerguß erleben durfte. Da ich keine Seife mitgebracht hatte, seifte er mich ein. Ich tat das Gleiche bei ihm. Nachdem wir uns abgetrocknet hatten, kam es in der Umkleidekabine zum ersten Sex zwischen uns. Es war in meinen Augen eine folgerichtige Entwicklung gewesen. Ich hatte mit meinen knapp dreizehn Jahren das Recht auf meinen Körper und meine Lust. Diese erste sexuelle Handlung mündete in eine regelrechte Liebesbeziehung, die wir vor den übrigen Mitspielern geheimhielten. Ich glaube, es hat auch niemand etwas gemerkt, da mich mein Trainer weiterhin so behandelte wie zuvor. Im folgenden Jahr spielte ich in einer höheren Jugendstufe und bekam einen anderen Trainer. Über die Beendigung der Liebesbeziehung war ich eigentlich nicht traurig; sie hatte einen Lebensabschnitt markiert, der nun zu Ende war. Auf mich wartete das Leben eines Jugendlichen, die Kindheit war endgültig vorbei. In der Schule war ich wieder einer der Besten. Wenngleich in der Schule die geheimen Jungenspiele weitergingen, vor allem im abgedunkelten Filmsaal, wo wir in der Hose des Nachbarn wühlten, war ich mit dreizehn gleichermaßen von Männern fasziniert. Ich wollte sehen, wie sie nackt aussahen. Meine Schulfreunde kannte ich, sie boten mir keine neuen Erkenntnisse. Nackte Männer wollte ich sehen, wollte wissen, wie ich einst als Mann aussehen würde. In Schwimmbädern versuchte ich unter der Trennwand der Umkleidekabine hindurchzuspähen, wenn sich ein Mann nebenan umzog. Viel konnte ich nicht sehen. Auch fürchtete ich, von anderen entdeckt zu werden. Der Gedanke, von einem Mann in die Umkleidekabine geholt zu werden und ihm beim Umkleiden zuschauen zu dürfen, erregte mich aber so sehr, daß ich mich oft in eine Kabine einschloß, um mir sexuelle Freuden selbst zu verschaffen.

In den Sommermonaten fuhr ich, gelegentlich nur mit einer Turnhose bekleidet, mit meinem alten Fahrrad durch einen verwilderten, waldähnlichen Park in unserer Stadt, in der Hoffnung, ein Mann würde auf meine spärliche Kleidung aufmerksam werden und mich zu einem Rendezvous einladen. Meine Fahrradtouren hatten nicht den gewünschten Erfolg. Entweder erkannte kein Mann meine geheimen Wünsche oder er hatte Angst vor Entdeckung. In meiner Not machte ich mich schließlich an einen älteren Jungen heran — er mochte achtzehn oder zwanzig Jahre alt gewesen sein — lockte ihn unter dem Vorwand, ich hätte entsetzliche Bauchschmerzen, in ein dichtes Gebüsch und ließ ihn solange meinen Unterkörper massieren, bis ich zu meinem Ziel gekommen war. Ich sehe noch heute sein entgeistertes Gesicht, als ich plötzlich einen Orgasmus bekam. Er machte sich schleunigst aus dem Staub, und ich war mit diesem Erfolg recht zufrieden.

Mit vierzehn hatte ich noch einmal eine fünf Monate dauernde erotische Beziehung zu meinem Zeichenlehrer, danach interessierten mich vor allem die Mädchen. Mein eigenes Geschlecht war mir nun vertraut. Ich hatte meine körperliche Entwicklung verfolgt, hatte viele meiner Klassenkameraden intim kennengelernt, hatte gesehen, wie ein Junge zum Mann wird. Dieses Kapitel meines Lebens war also abgeschlossen. Ich wurde nun kribbelig, wenn ich sah, wie sich zarte Mädchenbrüste unter der Kleidung andeuteten, wenn ein langhaariges Mädchen meine Nähe suchte. Ich erlebte, wie schnell man als Junge einen roten Kopf bekommt und wie einem die Worte fehlen, wenn man soviel Liebes und Zärtliches sagen möchte. In der Schule und meiner Mutter gegenüber waren mir eigentlich nie die Schlagfertigkeit und die Argumente ausgegangen. Den Mädchen war gelungen, was sonst keiner geschafft hatte: mir restlos den Kopf zu verdrehen.

Wenn ich heute über diese Erlebnisse nachdenke, muß ich oft schmunzeln. Ich habe keineswegs den Eindruck, ich sei damals ein Exot gewesen, der vieles erlebt hat, während die anderen leer ausgingen. Im Gegenteil: ich empfand mich lange Zeit als schüchtern und zurückgeblieben. Stets hatte ich das Gefühl, die anderen erlebten mehr als ich. Ob es wirklich so war, weiß ich nicht. Heute spielt das ohnehin keine Rolle mehr. Durch die Erlebnisse und Erzählungen meiner eigenen Kinder habe ich erfahren, daß die Buben von heute sich uns gegenüber kaum verändert haben. Gewiß werden sie mit viel mehr Details über Sexualität konfrontiert. Sie haben Aufklärungsunterricht in der Schule. Sie wissen nahezu alles über Sexualität. Wir wußten damals in der Theorie fast nichts, und haben manches einfach ausprobiert.

Ich glaube nicht, daß es ein Patentrezept gibt, wie sich Eltern verhalten sollten, wenn sie von der Liebschaft ihres Kindes zu einem Erwachsenen erfahren. Bei vielen Elternabenden habe ich mehr ratlose als entschlossene Eltern erlebt. Verbote auszusprechen oder vor Sittenstrolchen zu warnen, kann in Einzelfällen durchaus angebracht sein. In den meisten Fällen hilft nach meiner Erfahrung, Vertrauen in die Kinder zu investieren. Wenn Kinder wissen und spüren, daß sie ihren Eltern alles erzählen können, ohne den moralischen Zeigefinger fürchten zu müssen, werden sie alles, was ihnen wichtig ist, ihren Eltern erzählen. Kinder sind außergewöhnlich mitteilungsbedürftig. Das wissen erfahrene Eltern auch; sie kennen die Situation, wenn die Mutter konzentriert über den Herd und der Vater über den Schreibtisch gebeugt ist, und die Kinder stürzen herein und aus ihrem Mund sprudeln die großen und kleinen Erlebnisse des Tages heraus, so daß die Eltern Mühe haben, zuzuhören und nichts anbrennen zu lassen.

Manches, was uns Erwachsenen wichtig und erzählenswert erscheint, ist für die Kinder von untergeordneter Bedeutung. Wir sollten ihnen die Wahl lassen, was sie uns anvertrauen möchten und was nicht. Kinder brauchen auch ein paar Geheimnisse, selbst vor ihren Eltern. Wenn sie diese Freiheit nicht zugestanden bekommen, werden sie sich Geheimnisse in außer-familiären Bereichen schaffen, die sie auch wirklich geheimhalten. Ich weiß das zur Genüge aus meiner eigenen Kindheit, einer Kindheit voller Neugier und Tatendrang, voller Sehnsüchte und Wünsche. Meine Mutter hat nie gesagt: „Kind, ich habe Vertrauen zu dir.“ Sie hat dieses Vertrauen gelebt. Nie hätte ich dieses Vertrauen mißbraucht. Meine Freiräume als Kind habe ich genutzt, wie die heutigen Kinder es auch tun. Manche Erwachsene sollten sich viel mehr ihrer eigenen Kindheit erinnern!